Anthroposophie        =           Dreigliederung

Impuls - Reaktion - Inkarnation   1919 - 1969 - 2019    Geschichte - Quellen - Material

Hans Erhard Lauer

Ein Leben im Frühlicht des Geistes

Erinnerungen und Gedanken eines Schülers Rudolf Steiners

Verlag Die Kommenden - Freiburg i.Br. - 1977

Inhalt: Vorwort


Erster Teil:

1. Kindheit und Schulzeit

2. Begegnung mit der Anthroposophie

3. Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg. Die Bewegung für soziale Dreigliederung

4. Universitätsstudium und anthroposophische Hochschularbeit

5. Vom West-Ost-Kongreß in Wien bis zum Tode Rudolf Steiners

Zweiter Teil:

1. Anthroposophische Arbeit in Dornach bis zum Anschluß an Hitler-Deutschland

2. Die Neugestaltung der menschlichen Erkenntnis durch Anthroposophie

3. Auseinandersetzung mit Zeitereignissen

4. Reisen, Volksseelenkunde, Kunstforschung, innerer Umschwung

5. Zweiter Weltkrieg und Nachkriegsentwicklung

Dritter Teil:

Die Bedeutung Rudolf Steiners für die Zukunft

1. Entstehung und Entwicklung der Anthroposophie

2. Grundmerkmale des Werkes Rudolf Steines

3. Erkenntnis und Offenbarung

4. Johanneisches Christentum: Offenbarung des Heiligen Geistes

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Vorwort


   Das Greisenalter ist die Zeit der Rückblicke - aber auch der Herbst des Lebens, in dem es gilt, die Ernte, die in seinem Verlaufe gereift ist, einzubringen und nach den zukunftsträchtigen Keimen zu sichten, die sie in sich birgt. In diesem Sinne möchten die Lebenserinnerungen und Gedankenentwicklungen verstanden werden.


   Vier Momente sind es, im Ganzen genommen, die dem Leben, Schicksal und Wirken des Verfassers das Gepräge verliehen haben. Fürs erst eine musikalisch und zugleich denkerisch-philosophisch geartete Veranlagung. Zum zweiten der Umstand, daß er in Mitteleuropa geboren wurde und in den verschiedenen Teilen von dessen deutschsprachigem Gebiete sein Leben verbracht hat. Zum dritten, daß sein Leben in das Jahrhundert fiel, das der menschlichen Zivilisation die größten Umwälzungen gebracht hat, die in geschichtlicher Zeit jemals in einem solchen Zeitraum stattgefunden haben. Da der Verfasser unmittelbar vor dem Beginn dieses Jahrhunderts geboren wurde, hat er bereits mehr als drei Viertel desselben miterlebt, und noch sind diese Umwälzungen nicht zum Abschluß gekommen, sondern treiben offensichtlich erst und zwar in noch weiter sich steigerndem Tempo ihrem Höhepunkt zu. Wie das Leben fast jedes Menschen in unserem Jahrhundert auf irgendeine Art durch diese Umwälzungen mitgeprägt wurde, so in seiner Art auch das Leben des Verfassers. In dieser Beziehung ist von dem vierten der genannten Umstände zu sprechen.


   Er liegt darin, daß sein Schicksal den Verfasser schon in seiner Jugend der Persönlichkeit begegnen ließ, von der er die Überzeugung gewann, die sich in ihm im Laufe seines Lebens immer mehr (S8) befestigt hat: daß durch sie der Menschheit in dieser Wendezeit die entscheidende Wegweisung in die Zukunft zuteil geworden ist: Rudolf Steiner. Er konnte die Wirksamkeit dieser Persönlichkeit aus der Nähe noch fast durch ihr ganzes letztes Lebensjahrzehnt miterleben, in dem sie ihre höchste Gipfelung erreichte. Beim Rückblick auf sein Leben steht daher hinsichtlich des ersten Drittels desselben für den Verfasser die Erinnerung an diese Begegnung im Mittelpunkt. Im zweiten Drittel nimmt eine gleiche Stellung die innere Verarbeitung und Fruktifizierung der von dieser Persönlichkeit empfangenen Impulse ein. Und die Prüfung der geistigen Ernte seines Lebens wird ihm jetzt weitgehend identisch mit der Besinnung auf die Ergebnisse, zu welchen ihn für sein Welt- und Menschenverständnis die mehr als 60jährige Auseinandersetzung mit dem Werke Rudolf Steiners geführt hat.


   Nachdem der Tod in das Jahr des Übergangs vom ersten zum zweiten Viertel des Jahrhunderts gefallen war, jährte er sich zum 50. Male im Jahr des Übergangs vom dritten zum letzten Viertel desselben. Welches Echo fand dieses Ereignis in der Zeitwelt? Oftmals geschieht es, daß Hervorbringer bedeutender geistiger Schöpfungen nach ihrem Tode zunächst in Vergessenheit versinken, um nach einem halben Jahrhundert wieder entdeckt zu werden. Wie verhielt es sich mit Rudolf Steiner?


   Zu Lebzeiten aufs heftigste umkämpft, nach dem Tode dann aus dem Bewußtsein der Öffentlichkeit weitgehend entschwunden, lebte er zunächst in der Erinnerung und unverminderten Verehrung seiner Anhänger und Schüler fort. Die von ihm begründete geistige Bewegung, die auf vielfältigen Lebensgebieten in produktiven Leistungen sich auszuwirken begonnen hatte, wurde im Lande ihres Ursprungs während der Hitlerzeit verboten, während des Zweiten Weltkriegs auch in all den von der Nazimacht besetzten Gebieten; dann kam die politische Aufteilung Deutschlands an die Siegermächte des Westens und des Ostens, deren letztere jenes Verbot in ihren Herrschaftsbereichen perpetuierten (bewirken, dass etwas Dauer gewinnt, sich festsetzt, fortsetzt). In den Staaten des Westens folgte das Wirtschaftswunder und der Aufbau der Wohlstandsgesellschaft, die explosive Entwicklung in der militärischen und wirtschaftlichen Nutzung der Atomkraft, in der Raumfahrt, in (S9) der durch die Massenmedien erzeugten Informationsflut. Heute, da unsere Zivilisation, geprägt durch die Naturwissenschaft mit der von ihr erzeugten materialistischen Weltauffassung, durch Technik und Industrialismus, zwar schwindelerregende Gipfelerrungenschaften erreicht hat, aber mit diesen zugleich in eine ausweglose, die Menschheit mit ihrer Selbstvernichtung bedrohende Sackgasse geraten ist, und weit herum das Bewußtsein dämmert, daß eine von Grund auf neue Richtung der Entwicklung eingeschlagen werden muß, wenn sie diesem Verhängnis soll entrinnen können, ist die Lebensleistung Steiners wieder ins Gespräch gekommen. Einzelne der Impulse, die von ihm ausgegangen sind, namentlich die von ihm entwickelte Pädagogik und Heilpädagogik sowie die biologisch-dynamische Landwirtschaft haben weltweite Verbreitung und Anerkennung, ja Hochschätzung erlangt. Seine sozialen Ideen werden von einem wachsenden Teil der Jugend mit Enthusiasmus aufgegriffen. Der Kern seines Lebens und Wirkens ist freilich für das offizielle Geistesleben bis heute tabu geblieben. Es mag darum erlaubt sein, zu den vielfältigen Zeugnissen für Wesen und Bedeutung desselben, die in den Lebenserinnerungen seiner Schüler bereits beigebracht wurden, noch ein weiteres hinzuzufügen.


   Von den nachstehenden Kapiteln wurde der erste Teil vom Verfasser anläßlich seines 70. Geburtstages niedergeschrieben und in der damals von ihm herausgegebenen Monatsschrift "Mensch und Welt, Blätter für Anthroposophie" veröffentlicht. Es wurde in diesem wie auch in dem später entstandenen zweiten Teil für die Darstellung von allem bloß Persönlichen abgesehen und in diese nur aufgenommen, wovon der Verfasser glaubt, daß ihm eine gewisse mehr als nur persönliche Bedeutung zukommt. Der letzte Teil stellt den Versuch dar, als bescheidenen nachträglichen Beitrag zu dem Weltecho, das Steiners Werk zu seinem 50. Todestag fand, eine Charakteristik seines Wesens und seiner Bedeutung sowie eine Besinnung auf die Aufgaben zu skizzieren, welche dieses Werk für die Zukunft denen stellt, die dem von ihm ausgegangenen Impuls zur weiteren Entfaltung und Verwirklichung verhelfen wollen.


Basel, Mai 1977                                                                                                                                Hans Erhard Lauer