Anthroposophie        =           Dreigliederung

Impuls - Reaktion - Inkarnation   1919 - 1969 - 2019    Geschichte - Quellen - Material

Die Antike Philosophie

S15   In Darstellungen der Philosophie wird einleitend in der Regel darauf aufmerksam gemacht, daß "Philosophie" in älteren und neueren Zeiten ganz Verschiedenes bedeute. Im Griechentum und auch noch im Mittelalter war sie gleichbedeutend mit Erkenntnis überhaupt. Sie umfaßte daher den gesamten Inhalt der menschlichen Erkenntnis. Jedes Einzelgebiet der letzteren bildete eine Abteilung der Philosophie. So etwa bearbeitete Aristoteles - um gleich einen Größten als Beispiel zu nennen - als Philosoph sämtliche Gebiete des Erkennens, und man pflegt seine Philosophie nach den verschiedenen Gegenständen, die in ihr abgehandelt werden, in: Physik, Metaphysik, Logik, Ästhetik, Ethik, Staatslehre usw. einzuteilen. Ähnliche Gliederungen sind aber auch für die Platonische Philosophie sowie für die Philosophie des Mittelalters üblich.

   In der neueren Zeit dagegen sind die verschiedenen Zweige des Erkennens aus der Philosophie herausgetreten und haben sich als Spezialwissenschaften selbständig und ohne ein sie untereinander verknüpfendes Band nebeneinander hingestellt. Philosophie aber ist im wesentlichen zur Erkenntnistheorie geworden. D.h. sie beschäftigt sich nicht mehr mit einem bestimmten inhaltlichen Gebiete des Weltendaseins oder gar mit der Gesamtheit des letzteren, sondern nur mehr mit der Erkenntnistätigkeit als solcher, wie sie in den andern Wissenschaften eben auf die verschiedenen Inhalte der Welt gerichtet wird. Nur vereinzelt wird ihr heute darüber hinaus noch die Aufgabe zugewiesen, die Ergebnisse der verschiedenen Wissenschaften zu einem einheitlichen Weltbilde zusammenzufassen.

   Nun enthielt aber auch schon die Philosophie des Altertums und des Mittelalters als das Ganze der menschlichen Erkenntnis, das sie damals war, eine Lehre von der Erkenntnis als einen ihrer Teile in sich. Was bei Plato und Aristoteles als Dialektik erscheint, was insbesondere der letztere als Logik begründet hat, bedeutete die der damaligen Zeit entsprechende Lehre von der Erkenntnis. Freilich war die antik-mittelalterliche "Erkenntnistheorie" von grundsätzlich anderer Art als die moderne. Was Aristoteles als ein allgemeines Axiom ausspricht: daß das Ganze früher sei als die Teile, galt damals auch von der Philosophie als dem Ganzen und der Erkenntnislehre als einem ihrer Teile. Jene stand an erster Stelle, diese an zweiter. Das Primäre war damals eine bestimmte Auffassung von der Welt im Ganzen. Aus ihr folgte als das Sekundäre eine entsprechende Auffassung vom Wesen der menschlichen Erkenntnis.

   Umgekehrt liegt das Verhältnis heute. Die wichtigste Forderung, die wir an die Erkenntnistheorie stellen, geht dahin, daß sie voraussetzungslos sei, d.h. daß die Ergebnisse keines anderen Forschungsgebietes ihr als Voraussetzungen zugrunde gelegt werden. Denn da ihr der Erkenntnisprozeß als solcher zum Problem wird, muß sie zunächst alle Ergebnisse desselben in Frage S16 stellen. Heute muß gerade die Erkenntnistheorie den Anfang, das Erste im System der menschlichen Erkenntnis bilden.

   Wenden wir uns nun zunächst jener älteren Erkenntnisart zu, die als Ganze den Charakter der Philosophie trug und die Erkenntnislehre als einen ihrer Teile in sich schloß! Wie kann sie ihrer allgemeinsten Beschaffenheit nach gekennzeichnet werden? Für die Beantwortung dieser Frage ist zu bedenken, daß die Benennung der gesamten Erkenntnis als Philosophie nicht bloß eine Sache der Namensgebung war, sondern eine Wirklichkeit zum Ausdruck brachte. Die menschliche Erkenntnis hieß damals nicht nur, sie war Philosophie. Das bedeutet zunächst: sie ging nur auf das Allgemeine und Grundsätzliche in der Welt, nicht auf das Einmalige, Einzelne, Besondere. Wir können es auch mit dem lateinischen Wort ausdrücken: sie zielte nur auf das "Prinzipielle" in der Welt. Ja, sie ging ursprünglich auf dasjenige, was dieses Wort eigentlich bedeutet: auf das Anfängliche. Der allgemeine, allem gemeinsame Ursprung und Urgrund war es, den die Philosophie an ihrem Beginne: innerhalb der jonischen Naturphilosophie zu ergründen suchte. Diese Kennzeichnung der Philosophie weist aber bereits zurück auf den älteren, der vorgriechisch-orientalischen Kultur eigentümlichen Erkenntnisbegriff, aus dem sich, wie in der Einleitung bereits bemerkt, in der jonischen Naturphilosophie der griechische Erkenntnisbegriff erst herausbildete. Für den Orient bedeutete Erkennen soviel wie die Ursprünge des Weltendaseins d.h. die gemeinsame Wurzel alles dessen zu erfassen, was uns heute als die Vielfalt der Erscheinungen entgegentritt. Freilich wurden diese Ursprünge damals noch nicht in Gestalt von Begriffen, sondern in mythischen Bildern: Göttersagen, Weltschöpfungserzählungen usw. dargestellt. Ein letzter Rest dieser bildhaften Darstellung des Weltenursprungs begegnet uns in der ältesten griechischen Philosophie, wenn sie das Wasser, das Feuer, das Unendliche usf. als dasjenige bezeichnet, aus dem "alles entstanden" sei. Je weiter sich aber die Erkenntnis der Form nach vom Mythus in den Begriff umbildete, desto mehr wandelte sich ihr Inhalt von der Darstellung des Ursprungs, aus dem das Weltendasein hervorgegangen, in die Erfassung dessen, was innerhalb dessen gegenwärtiger Existenz das Allgemeine, Sichgleichbleibende, Dauernde ist. Denn die Begriffe haben immer den Charakter der Allgemeinheit, daher sie im Mittelalter auch als Universalia bezeichnet wurden. Wir können somit auch sagen - und kommen damit zu einer zweiten Charakteristik des philosophischen Erkennens -: es bewegte sich wesentlich im Elemente des Begrifflichen, nicht etwa in dem der sinnlichen Erscheinungen. Denn die letzteren beinhalten immer ein Einzelnes, Veränderliches, Vergängliches.

   Insofern nun die Philosophie sich mit der menschlichen Erkenntnis selbst beschäftigte, faßte sich auch diese nur nach ihrem (allgemeinen) Begriffe, nicht nach den verschiedenen Erscheinungsformen, die sie für verschiedene Tatsachengebiete (etwa für die Erforschung der Natur oder der Geschichte) annehmen könnte oder müßte. Und als dieses allgemeine Wesen bzw. als der Begriff der Erkenntnis wurde von ihr nun gerade dieses aufgestellt, daß sie die Begriffe oder das allgemeine Wesen der Dinge zu erfassen habe. Zum ersten Mal geschah dies durch Sokrates. Er hat zuerst Wesen und Aufgabe der Erkenntnis in diesem Sinne unzweideutig klargestellt. Und an der von ihm S17 gemachten Aufstellung haben Plato und Aristoteles aufs strengste festgehalten. Gegenstand der Erkenntnis sind auch für sie die Allgemeinbegriffe oder Ideen. Somit tritt uns also die zunächst von uns gegebene Charakteristik der griechischen Erkenntnisart auch als die Auffassung entgegen, die ihre bedeutendsten Vertreter selbst von ihr entwickeln haben.

   Hier müssen wir uns nun die Frage vorlegen: Was bedeutet es eigentlich, daß das menschliche Erkennen im Griechentum, wie es seine damaligen Vertreter ja auch selber aussprechen, das Begrifflich-Allgemeine in der Welt zu seinem Gegenstande hat? Es bedeutet dies zweifellos, daß dem damaligen Bewußtsein dieses Begrifflich-Allgemeine noch "entgegenstand", d.h. als Objekt "gegeben" war. Um uns diesen Tatbestand verständlich zu machen, ist es nötig, daß wir nochmals einen Blick auf die der philosophischen vorangehende, mythologisierende Erkenntnis des Orients und auch noch des frühen Griechentums zurückwerfen.

   Der Mythus kann als eine sinnbildliche Darstellung bestimmter Tatsachen oder Erkenntnisse bezeichnet werden. Ein geistiger Inhalt erscheint in einem sinnlichen Bilde, oder umgekehrt: ein sinnliches Geschehen offenbart einen geistigen Inhalt. Ein Naturvorgang stellt sich als ein moralisch zu bewertender dar. Ein der moralischen Sphäre angehörendes Geschehen erscheint als ein Naturvorgang. So etwa, wenn - um ein Beispiel aus der altgriechischen Mythologie zu nennen - der Wechsel der Jahreszeiten zur Darstellung gebracht wird durch die Bilder des Persephone-Mythus. Ein Geistig-Moralisches (Raub und teilweise Befreiung einer Göttin) wird da im Bilde eines Sinnlich-Natürlichen angeschaut, bzw. ein Sinnlich-Natürliches (Wechsel der Jahreszeiten) wird als Ausdruck eines Geistig-Moralischen erlebt. Ein solches Mythengebilde läßt sich auf keine andere Weise verstehen als durch die Vorstellung, daß das mythologisierende Bewußtsein seine Erkenntnisinhalte noch nicht als von ihm erworbene oder gar erzeugte, sondern als ihm gegebene, ihm geoffenbarte erlebte. Geoffenbart nämlich in dem Sinne, daß der Mensch jener Zeit von der Natur nicht, wie der heutige, bloß physisch-sinnliche Wahrnehmungsinhalte, sondern zugleich und in Einheit mit diesen geistige, d.h. erkenntnismäßige und moralische Inhalte empfing. Er kann noch keine rein-sinnliche, sondern nur eine einheitliche sinnlich-geistige Wahrnehmung gekannt haben. Das heißt aber nichts weniger, als daß es für ihn eine "Natur" im heutigen Sinne überhaupt noch nicht gab, sondern nur eine "Welt", die zugleich geistig und materiell, die göttlich und natürlich in einem war. Wir müssen uns vorstellen, daß der Mensch, wie er als leibliches Wesen die Nahrung aus der äußeren Welt in sich aufnimmt, so damals als geistig-seelisches Wesen auch Geistig-Seelisches, d.h. Erkenntnisse und moralische Impulse aus der Welt unmittelbar empfing. Das bedingte aber, daß er, wie wir uns als körperliche Wesen von unsrer physischen Umwelt (Erde, Luftumkreis usw.). nicht abgetrennt denken können, damals als seelisch-geistiges Wesen sich gegenüber dem Seelisch-Geistigen der Welt nicht abzugrenzen vermochte. Er mußte sich noch als eins erleben mit der Welt, die göttlich-natürlich war. Er gehörte dieser Welt an als ein bloßes Glied derselben. Und auch in ihm selbst konnten Leibliches und Seelisch-Geistiges noch nicht in der Weise unterschieden sein, wie dies heute der Fall ist. Wenn der Inder in einer alten Zeit durch den Genuß eines bestimmten S18 Pflanzensaftes (Somatrank), in einer späteren noch durch eine bestimmte Regelung seines Atmungsprozesses zu bestimmten geistigen Erlebnissen zu gelangen vermochte, so zeigt dies, daß die leiblichen Prozesse (Verdauung, Atmung) auf seelisch-geistige Art erlebt wurden. Das Gegenstück hierzu war allerdings dies, daß die geistigen Inhalte in der Seele auf naturhafte Art aus der Leiblichkeit aufstiegen und dadurch z.B. auch von der blutsmäßigen Zugehörigkeit des Menschen, von seinem Lebensalter, von den klimatischen Verhältnissen und der geographischen Lage seines Wohnortes aufs weitestgehende abhängig waren.

   So fremdartig ein solches Bewußtsein unserm heutigen erscheinen mag, wir müssen seine Existenz für eine ältere, dem Zeitalter der Philosophie vorangehende geschichtliche Epoche dennoch annehmen, wenn wir deren Geisteserzeugnisse, die, sofern das Erkenntnisleben in Betracht kommt, damals über die ganze Erde hin den Charakter der Mythologie trugen, verstehen wollen. In seinem "Hymnus an die Natur" bringt der junge Goethe ein Naturerleben zum Ausdruck, das der Empfindungsweise nach demjenigen jenes einstmaligen Bewußtseins verwandt ist: "Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen - unvermögend, aus ihr herauszutreten, und unvermögend, tiefer in sie hineinzukommen. Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt sich mit uns fort, bis wir ermüdet sind und ihrem Arme entfallen... Gedacht hat sie und sinnt beständig, aber nicht als ein Mensch, sondern als Natur... Die Menschen sind alle in ihr und sie in allen... Sie hat keine Sprache noch Rede; aber sie schafft Zungen und Herzen, durch die sie fühlt und spricht... Ich sprach nicht von ihr. Nein, was wahr ist und falsch ist, alles hat sie gesprochen. Alles ist ihre Schuld, alles ist ihr Verdienst!" Wenn auch Goethe hier den (modernen) Ausdruck "Natur" gebraucht, so geht aus dem ganzen Inhalte seines Hymnus doch hervor, daß er sie nicht als bloß geschaffene Natur - natura naturans -, sondern als schaffende Natur - natura naturans -, d.h. als Gott-Natur erlebt.

   Liegen aber die Dinge hinsichtlich des mythologisierenden Bewußtseins so, wie wir dies im Vorangehenden angedeutet haben, so muß man, ganz im Einklang mit dem Goetheschen Hymnus, die Gestaltung der Mythenbilder als einen Teil des Schaffens dieser Gott-Natur selber auffassen. Man versteht in der Tat die alten Mythen nur richtig, wenn man sie nicht vom Menschen, sondern von dieser Gott-Natur her versteht. Sie sind ebenso als Schöpfungen dieser Gott-Natur aufzufassen wie irgendwelche Pflanzenformen oder Tiergestalten. Man kann sich im Genaueren etwa folgende Vorstellung hierüber bilden: Auf niedrigeren Stufen ihres Schaffens bringt diese Gott-Natur mineralische, lebendige usw. Gebilde hervor, auf höheren ein Bewußtsein und in diesem Vorstellungsbildungen. Wie aber in der Entwicklung der Pflanze - im Sinne der Goetheschen Morphologie - deren "Wesen" in Stengel, Blatt, Blüte, Frucht in immer neuen Metamorphosen erscheint, so gestaltet sich das "Wesen" des Weltschöpfungsprozesses auf den verschiedenen Stufen seiner Entfaltung in immer neuen Metamorphosen aus. Die höchste derselben sind die mythischen Bildgestaltungen. In ihnen nimmt das "Wesen" des Schöpfungsprozesses die Form von Bewußtseinsinhalten an. Hier wird es zur Offenbarung seiner selbst. S19 Der Mensch ist lediglich Träger des Bewußtseins; er ist das Organ, in welchem sich diese höchste Form und letzte Phase des Schöpfungsprozesses abspielt; er ist die Zunge und das Herz, durch die sich die schaffende Gott-Natur zuletzt selbst erfühlt und ausspricht. Der Weltschöpfungsprozeß ist, so verstanden, in der Zeit der Mythenbildung noch nicht abgeschlossen; er befindet sich da vielmehr in seinem Gipfelgeschehen, in welchem er in der Gestaltung der mythischen Bilder zum Offenbarer seiner selbst wird. So wird verständlich, warum diese Bilder auch die Weltschöpfung zu ihrem hauptsächlichen Inhalte haben. Sie sind religiöse Offenbarung, da sie vom göttlichen Schaffen handeln, und zugleich Kosmogenie, da sie von der Entstehung der Welt, der Natur sprechen.

   Daß die Mythen nicht als Erzeugnisse des Menschen im eigentlichen Sinne d.h. der menschlichen Individualität, sondern als solche der "Welt" in der oben charakterisierten Bedeutung - angesehen werden müssen, erhellt aus verschiedensten Tatsachen. Fürs erste aus ihrem durchwegs anonymen Ursprung. Es gibt keinen Mythus, als dessen Schöpfer - wie dies etwa für ein philosophisches System oder eine wissenschaftliche Theorie möglich ist - eine bestimmte Persönlichkeit aufgewiesen werden könnte. In den Zeiten, da die menschliche Persönlichkeit als solche geschichtlich wirksam wird, finden sich die Mythen als Gemeingut bestimmter Völker, ja z.T. der ganzen Menschheit bereits vor. Sie begleiten diese auf dem Wege mündlicher Überlieferung aus dem Dunkel ihres vorgeschichtlichen Daseins noch ein Stück weit in ihr geschichtliches Leben hinein. Ferner ist in ihrem Zusammenhang nirgend von einer Methode die Rede, mittels derer man ihre Erzeugung zu erlernen vermöchte. Es fehlt jegliche Erkenntnistheorie d.h. jede Reflexion auf ein im Erkennen geübtes Tun, - sofern die Mythenbildung als die damalige Form des Erkennens aufgefaßt wird. Wo in einzelnen Fällen nachträglich über die Entstehung von - den mythischen Bildern verwandten - Wahrträumen berichtet wird - wie etwa im alten Testament innerhalb der Geschichte des Joseph oder des Königs Nebukadnezar, oder auch in verschiedenen griechischen Sagen -, da wird immer darauf aufmerksam gemacht, wie diese Bilder von Gott bzw. den Göttern den betreffenden Menschen in die Seele gelegt worden sind. Was aber die Mythen von der Weltschöpfung betrifft, so sind diese beim Eintritte der verschiedenen Völker in ihre geschichtliche Epoche überall schon vorhanden. Sie gleichen darin der menschlichen Sprache. Auch von dieser läßt sich ja weder ein geschichtlicher d.h. auf einzelne Persönlichkeiten zurückführender Ursprung noch die Art ihrer Entstehung nachweisen. Die verschiedenen Theorien, die schon in griechischer und dann in neuerer Zeit über ihre Entstehung aufgestellt worden sind - sei es, daß sie sie als ein Produkt der willkürlichen Erfindung und Vereinbarung, sei es als eine Fortentwicklung tierischer Laute erklären -, beweisen nur das eine mit Sicherheit, daß dem späteren, individuellen Bewußtsein ein wirkliches Wissen um diesen Hergang verschlossen ist. So bleibt nichts übrig, als die Schöpfung der Sprache denselben Kräften zuzuschreiben, denen der Mensch überhaupt seinen Ursprung und seine ganze leibliche Bildung in ihrer Eigenart verdankt. Denn die letztere ist ganz offensichtlich, wie auf den aufrechten Gang und die Entfaltung eines Vorstellungs- oder Bewußtseinslebens, so auch auf die Sprache hinorientiert. S20 Wenn aber die Sprachbildung in besonderem Maße mit der Mythenbildung verbunden ist - stellt doch das Wort als solches in seiner Einheit von sinnlichem Klang und geistiger Bedeutung etwas dem mythischen Bilde Verwandtes dar -, so darf wohl von der letzteren im selben Sinne wie von der Sprachentstehung behauptet werden, daß sie den "letzten Akt" des Weltschöpfungsprozesses bilde, insofern dieser in der Menschenschöpfung gipfelt.

   Der Geburt des philosophierenden Bewußtseins liegt nun ein bedeutsamer Entwicklungsumschwung zugrunde. Was vorher eine Einheit war, gliedert sich in mehrfachem Sinne in eine Zweiheit. Fürs erste beginnt der Mensch sich von der Gott-Natur abzulösen und sich ihr gegenüberzustellen. Erst jetzt nimmt ein eigenes menschliches Tun seinen Anfang. Sowohl auf dem philosophischen wie auch auf allen andern Gebieten des menschlichen Lebens wird die Einzelpersönlichkeit als solche geschichtlich wirksam. Die Anonymität des geistigen Schaffens hört auf. Zugleich tritt im Erleben des Menschen selbst eine Entzweiung ein in Wahrnehmen und Denken, d.h. in ein sinnlich-leibliches und ein geistig-seelisches Erleben. Wie in einer Flüssigkeit, in der ein Stoff aufgelöst wurde, nach einiger Zeit dieser Stoff als Bodensatz nach unten sinkt, die Flüssigkeit aber sich klärt und nach oben steigt, so entgeistigt sich jetzt im menschlichen Erleben das Sinnliche und entsinnlicht sich das Geistige. Das einheitliche sinnlich-geistige Bild des Mythus spaltet sich in Wahrnehmung und Begriff. Dadurch beginnt der Mensch nun auch an der Welt ein Zweifaches zu unterscheiden: sie gliedert sich für sein Erleben in ein Geistiges, Gestaltendes, Gedankliches und in ein Sinnliches, Gestaltetes, Stoffliches.

   Das alles vollzieht sich im Griechentum freilich erst in den Anfängen. In einer Weise entzweien sich Mensch und Welt, in andrer sind sie noch eine Einheit. Zwar zerfällt das mythische Bild in die Zweiheit von Begriff und Wahrnehmung; doch birgt der Begriff noch sinnlich-bildhafte, die Wahrnehmung noch geistig-begriffliche Elemente in sich. Zwar ist die Gedankenbildung schon menschliche Tätigkeit, und doch ist sie auch noch Weltoffenbarung.

   Man kann die einzelnen Phasen und Momente dieses Umgestaltungsprozesses in der altgriechischen Philosophie deutlich verfolgen. Anfänglich fällt es den Philosophen noch schwer, den sich herausbildenden Unterschied zwischen Wahrnehmen und Denken überhaupt zu fassen. Beides hat zunächst noch den Charakter des Empfangens einer von außen kommenden Offenbarung. Empedokles z.B. läßt daher einen Unterschied zwischen beiden noch gar nicht gelten. Erst allmählich bemerkt man, daß das Wahrnehmen ein sinnliches und mehr passiv geartetes, das Denken dagegen ein geistiges und mit einer gewissen Aktivität verbundenes Erleben ist. Andererseits werden doch schon bald, z.B. von den Eleaten, die Widersprüche zwischen den beiden Offenbarungen bemerkt und sogar in übertriebener Weise hervorgehoben.

   Unsicherheit besteht zunächst auch in der Charakteristik der beiden Welten: Während Heraklit die sinnlich wahrgenommene als eine solche der festen, starren Gestalten, die denkerisch erfaßte dagegen als eine solche des stetigen Werdens und Fließens charakterisiert, ist umgekehrt für die Eleaten die Welt der Sinneserscheinungen die des Wechselnden und Vergänglichen, dagegen die denkend ergriffene Welt die des Ewigen und Unveränderlichen.

   S21   Übereinstimmung herrscht im allgemeinen nur in einem: daß das Schwergewicht des Weltendaseins in dem geistig Wahrgenommenen, dem denkend Ergriffenen liege. In diesem Weltelemente lebt fort, was früher als das Göttliche, Schaffende erlebt wurde. Nur ist als dessen Hauptbestimmung an Stelle des Schaffens jetzt das Sein getreten. Was dem Denken sich offenbart, ist das wahrhaft Seiende in der Welt. Aber noch weiß man dessen Merkmale nicht befriedigend zu bestimmen. Heraklit, wie schon bemerkt, erblickt diese im ewigen Werden, die Eleaten umgekehrt in der Unveränderlichkeit, außerdem in seiner Einheit. Die Pythagoreer sahen es vor allem in den Zahlen und Zahlenverhältnissen. Anaxagoras in der vernünftigen Ordnung überhaupt (im Nus). Die große Errungenschaft des Sokrates - nachdem in der Sophistik das Sein gänzlich der Bestimmung zu entschwinden gedroht hatte - war es, zu erfassen, daß das Sein im Begriffe liege. Was wir im Denken als Begriffsinhalt einer Sache erfassen, das macht deren wahres Sein aus; das ist sie in Wirklichkeit. Die Bedeutung dieser sokratischen Bestimmung liegt darin, daß in ihr ein Dreifaches als miteinander identisch erklärt wurde. Erstens wird durch sie das Wesen des "Seienden" nicht, wie von seinen Vorgängern, inhaltlich, sondern zunächst formal-methodisch bestimmt: das Seiende ist das, was wir im Erkennen von der Welt erfassen. Zweitens wird in ihr zum erstenmal Wesen und Aufgabe des Erkennens bestimmt: eine Sache erkennen heißt durch Denken ihren Begriff zu erfassen. Und drittens verwandelt sich eben dadurch die zunächst bloß formale Bestimmung des Seienden in eine inhaltliche: da es in dem durch die Erkenntnis zu Erfassenden besteht, besteht es eben in der begrifflich-ideellen Bestimmung einer Sache. Durch all das hat Sokrates das Fundament dafür geschaffen, daß das Erkenntnisleben des Griechentums in seiner weiteren Ausgestaltung das werden konnte, was es auf der damaligen Stufe der menschlichen Bewußtseinsentwicklung werden mußte. Wie haben wir dies zu kennzeichnen? Die Offenbarung des Weltwesens selber in der Menschenseele hatte sich aus der mythisch-bildhaften in die begriffliche Form verwandelt. Damit hatte sie sich aus einer Offenbarung, die der Mensch nur empfangen hatte, in eine solche verwandelt, deren Zustandekommen er durch seine eigene Tätigkeit mitbewirkt. Sie war aus einer reinen Offenbarung eine solche geworden, die zugleich menschliche Erkenntnis ist. Und damit hängt es zusammen, daß deren Inhalt, während ihn früher die Weltschöpfung, das Weltwerden ausmachte, jetzt nur mehr das Weltensein bildete. Ebensoviel wie das Erkennen an Tätigkeitscharakter, an Dynamik bei dieser Umgestaltung gewonnen hatte, war der Welt, insofern sie als dessen Inhalt erscheint, verlorengegangen. An Stelle des schöpferischen, dynamischen Weltenwerdens war das statische Weltensein getreten.

   Damit ist nun die Frage beantwortet, die wir am Beginne dieses Abschnittes aufgeworfen hatten: was es eigentlich bedeute, daß im Griechentum - auch nach dessen eigener Auffassung - die Begriffe oder das Allgemeine "Gegenstand" der Erkenntnis waren? Es bedeutet dies, daß dem Griechen die Begriffe noch aus der Welt heraus als ein Stück - und zwar als das Kernstück - ihres Seins sich offenbarten, wie einem früheren Menschen das Weltenwerden durch die mythischen Bilder sich geoffenbart hatte. Und wie die Gestaltung der Mythenbilder ein Geschehen - nämlich das Gipfelgeschehen - S22 der Weltschöpfung selber war, so sind die Begriffe des Griechentums gleichsam noch ein in den Menschen hineinragendes Stück des Weltenseins selber. Nur sind sie eben andererseits - infolge der beginnenden Trennung von Mensch und Welt - zugleich Erzeugnisse des menschlichen Erkenntnislebens. Daß die Begriffe diese zweifache Bedeutung haben: Seinselement und Erkenntnisinhalt zu sein, und diese Zweiheit zugleich noch eine Einheit bildet, das macht das Eigenartige der griechischen Erkenntnis aus. In der Art, wie die Griechen den Begriff erlebten, waren dessen subjektiv-ideale und objektiv-reale Bedeutung noch nicht getrennt, sondern nur zwei Seiten einer und derselben Sache. Und hierdurch wird begreiflich, warum, wie wir eingangs bemerkten, die Gesamtweltauffassung damals das erste und die Erkenntnislehre das zweiter oder nur einen Teil von jener bildete. Da der Grieche mit seinem Erkennen noch im Sein drinnen stand, war die griechische Philosophie wesentlich Seinslehre, Ontologie; und was als Erkenntnislehre innerhalb derselben auftrat, war eine solche nicht im modernen Sinne, sondern beinhaltete denjenigen Teil des Weltenseins, der in der Tatsache des menschlichen Erkennens enthalten ist, d.h. dasjenige, was das "eigentlich Seiende" im Erkenntnisgeschehen ist.

   Woraus ergab sich nun aber im Griechentum die Problematik für das Erkennen? Sie resultierte daraus, daß neben den Begriffen ja auch die Sinneserscheinungen - als das andre der Stücke, in die sich der einstmalige Mythus aufgelöst hatte - gegeben waren. Und so erstand die Aufgabe, sich über die Beziehung zwischen beiden klar zu werden bzw. im Menschen ein Verhältnis zwischen Wahrnehmen und Denken herzustellen.

   Plato löste dieses Problem bekanntlich in der Weise, daß er die Ideenwelt als die allein wirkliche, die Sinneswelt dagegen als einen bloßen, relativ unwirklichen Abklatsch jener bezeichnete. Diese Charakteristik zeigt, daß er die Welt noch ganz vom Gesichtspunkt ihrer Entstehung, ihrer Schöpfung her betrachtet, wie es das mythologisierende Bewußtsein getan hatte. In der Tat lebt in ihm jene ältere Bewußtseinsform innerhalb der philosophierenden noch einmal auf. An vielen Stellen seiner Werke bedient auch er sich noch der mythologischen Darstellungsweise. In seinem "Timäus" hat er eine ausführliche Beschreibung der Weltschöpfung gegeben. Er spricht darin von dem göttlichen Weltenbaumeister. Einen spezifischen Naturbegriff hat auch er noch nicht. Er kennt nur die Welt, das All, das ihm eine einheitliche geistig-seelisch-leibliche Ganzheit ist, und von der das geistig-seelisch-leibliche Wesen des Menschen ein Glied und zugleich Abbild darstellt. Der Menschenseele entspricht bei ihm noch eine Weltseele. Das Materielle erscheint gleichsam erst an der unteren Grenze seines Bewußtseins. Er interessiert sich für die materielle Welt nur, insoweit sie die Abbilder der ideellen Urbilder in sich trägt. Was sie an sich selbst ist, bleibt bei ihm mehr oder weniger im Dunkel. Bald erscheint die Materie als das völlig Gestaltlose, bald als identisch mit dem Räumlichen. Jedenfalls aber ist, was im stofflichen Bereiche auftritt, in ständigem Entstehen, Sichwandeln und Vergehen begriffen, während dagegen die Ideen ewig und unveränderlich sind.

   Demgemäß kann sich auch das Erkennen nur auf die Erfassung der Ideenwelt beziehen. Die sinnliche Wahrnehmung ist für Plato kein Erkennen, sondern nur S23 ein Meinen oder Glauben. Die auf die Sinneswelt bezüglichen Vorstellungen können nicht den Charakter der Gewißheit haben, sondern nur den der Wahrscheinlichkeit, da ihr Gegenstand ja in stetiger Veränderung sich befindet. Das Problem des Erkennens kann für ihn daher nur in der Aufgabe bestehen, sich von der Sinneswahrnehmung hinweg, durch entsprechende innere Erweckung, zur Ideenanschauung zu erheben. Die Bedeutung der Sinneswelt liegt für ihn nur darin, daß sie in uns den Trieb erregt, zur Erkenntnis der geistigen Urbilder ihrer Erscheinungen zu gelangen. Diese hat aber, wenn sie erlangt wird, dann ganz den Charakter der geistigen Offenbarung. Die subjektiv-menschliche Bedeutung der Ideen tritt bei Plato völlig hinter ihrer objektiv-kosmischen zurück. Daher hat auch das Denken als Ideen-Erfassung bei ihm viel mehr den Charakter des Empfangens als den des Erzeugens. Und was für das Wahre, dasselbe gilt auch für das sittlich Gute. Es erscheint bei Plato restlos als ein Objektiv-Kosmisches und ist für ihn identisch mit der Ideenwelt. Höchst charakteristisch ist für ihn ferner, daß die geistige Anschauung der Ideenwelt, wenn sie im Erdenleben erlangt wird, nicht eine unmittelbare ist, sondern als eine bloße Erinnerung auftritt an jene Anschauung derselben, die wir in einem rein geistigen Dasein vor der Geburt gehabt haben. Auch hierin zeigt sich sein nach rückwärts gehender Geistesblick. Im "Phädon" allerdings legt er dem Sokrates das Wort in den Mund, daß der Philosoph sich dauernd nach dem Tode sehne, um wieder völlig mit der Ideenwelt vereinigt sein zu können. Ob nun aber das Erkennen als ein Zurückstreben hinter die Geburt oder ein Vorwärtsstreben über die Todespforte hinaus gefaßt wird, in jedem Falle ist es ein Hinwegstreben von der Sinneswelt. Die Platonische Philosophie gravitiert insofern einseitig - ontologisch - nach der Ideenwelt, - erkenntnistheoretisch - nach dem Ideenerleben hin. Ihr "Idealismus" ist dadurch der reinste und charakterischste Ausdruck derjenigen Bewußtseinsgestaltung, die als "philosophierendes Bewußtsein" auf das Begriffliche gerichtet ist. Plato wird insofern immer das Urbild des "Philosophen" bleiben. Indem die Welt der Ideen für ihn zugleich noch die des Göttlichen repräsentiert, ist seine Ideenlehre freilich zugleich noch Theologie. Und hierin bezeugt sich abermals seine Geistesverwandtschaft mit jener älteren Epoche, deren Weltschöpfungsbilder zugleich Religionsinhalte waren.

   Kommt so in Plato die griechische Bewußtseinsstufe mit einer Nuance des hinter seine Zeit Zurückschauens zur Verkörperung, so in Aristoteles mit einer solchen des seiner Zeit Vorauseilens. Plato ist die letzte Frucht einer langen Vergangenheit, Aristoteles der erste Keim einer weiten Zukunft. Darum repräsentieren nur beide zusammen das Wesentliche der griechischen Philosophie.

   Aristoteles' Blick ist nämlich bereits in einem Maße der Sinneswelt zugewandt, das über die Möglichkeiten des griechischen Bewußtseins in gewisser Weise hinausgeht. Hieraus ergaben sich die besonderen Erkenntnisaufgaben, vor die er sich gestellt sah; hieraus auch die noch nicht zu völlig befriedigender Durchbildung gediehenen, gewissermaßen noch offen gebliebenen Formulierungen seiner Philosophie.

   Auch für ihn ist es zwar selbstverständlich, daß die Begriffe das Sein repräsentieren. Auch er erlebt sich in den Begriffen noch unmittelbar mit dem Sein verbunden. Aber es genügt ihm nicht, die Begriffe schlechthin mit dem S24 Seienden, das Seiende mit dem Begrifflichen zu identifizieren. Die besondere Art seines Welterlebens erzeugt in ihm das Bedürfnis, das Seiende so weit zu fassen, daß auch die Sinneserscheinungen in ihm Platz haben. Er möchte auch dem Materiellen einen Anteil am Sein zuerkennen. Dadurch ergibt sich für sein Weltbild, bei aller Verwandtschaft mit dem Platonischen, doch eine von diesem völlig verschiedene Grundkonzeption. Plato hatte nicht nur einseitig der Ideenwelt den Seinscharakter zuerkannt; er hatte auch zwischen ihr und der Sinneswelt (ähnlich wie die Eleaten) eine Kluft aufgerissen; und es erschien die letztere schließlich in seiner Darstellung wie eine bloße Doublette der ersteren. Aristoteles möchte, wie gesagt, auch das Sinnlich-Materielle mit in das Sein aufnehmen. Dadurch ist er genötigt, das letztere als eine Einheit von Sinnlichem und Begrifflichen zu fassen, d.h. das Begriffliche nicht als ein abgesondert für sich Bestehendes, sondern als ein mit dem Sinnlichen Verbundenes sich vorzustellen; und schließlich kann er dadurch die sinnliche Erscheinung nicht als eine bloße Nachbildung des Begriffs, sondern muß sie als etwas von ihm wesentlich Verschiedenes fassen, das dessen Halbheit erst zur Ganzheit des Seienden vervollständigt. So ist er genötigt, Begriff und Sinneserscheinung miteinander vergleichend, ihre Merkmale und Unterschiede genauer als Plato zu fassen. Er versucht, zu bestimmen, welche Seite des vollen Seins im Begriff und welche in der Sinneserscheinung sich darstellt. Auf diesem Wege kommt er zu den Unterscheidungen von Wesen und Erscheinung, von Allgemeinem und Einzelnem, von Form und Stoff. Durch diese Unterscheidungen, die für die ganze nachfolgende philosophische Entwicklung grundlegend geworden sind, gelingt es ihm zwar, in seiner Seinslehre ein völlig ausgewogenes Gleichgewicht zwischen Begriff und Sinneserscheinung herzustellen. Worin aber die Einheit beider besteht, vermag auch er nicht in befriedigender Weise zu fassen, weder im Einzelnen noch im Ganzen. Seine Weltanschauung bleibt dualistisch.

   Es repräsentiert ihm also der begriffliche Bestandteil des Seienden das Moment des Wesens, des Allgemeinen, der Form; das sinnlich Wahrnehmbare dagegen dasjenige der Erscheinung, des Einzelnen, des Stoffes. Volles Sein liegt somit nur da vor, wo ein Wesen zur Erscheinung kommt, ein Allgemeines sich in einem Einzelnen darstellt, eine Form in einem Stoffe sich verkörpert. Beide Elemente sind zu seinem Zustandekommen als Bedingungen gleichmäßig notwendig. Um nun das Wie dieses Zustandekommens noch genauer zu kennzeichnen, legt Aristoteles den beiden Seinskomponenten noch die Merkmale der Potenzialität (Möglichkeit) und Aktualität (Wirklichkeit) bei. Im Stoffelement liegt die Möglichkeit oder Fähigkeit zu einem bestimmten Sein, im Formelemente dagegen die Kraft, welche diese Möglichkeit in die Wirklichkeit überführt. Es haben also Form und Stoff für das Entstehen des vollen Seins eine ähnliche Bedeutung wie das Männliche und das Weibliche für die Erzeugung eines lebendigen Wesens. (Und man darf wohl behaupten, daß Aristoteles seine Charakteristik des Seienden aus dem Erleben des Organischen geschöpft hat.) Darum erscheint auch im Gegensatz zu Plato, dessen Darstellungen das "Sein" als ein unveränderlich Ruhendes schildern, bei Aristoteles das Sein wesentlich als ein Geschehen, ein Prozeß oder, in seiner Ausdrucksweise: als "Bewegung". Und zwar als eine Bewegung, die durch die verschiedensten Stufen hindurchschreitet. Denn in den verschiedensten Arten S25 und Graden tritt uns in der Welt die Durchdringung von Form und Stoff entgegen. Freilich muß diese aristotelische "Weltbewegung" unterschieden werden von dem, was bei Plato als "Weltenwerden" erscheint. Wenn auch Plato das wahre Sein (der Ideen) als ein Ruhendes betrachtet, so stellt er andrerseits die Welt doch noch vornehmlich vom Gesichtspunkt ihrer Entstehung, ihrer Schöpfung dar. Umgekehrt faßt Aristoteles das Sein zwar als Bewegung; dafür aber ist diese Bewegung bei ihm gleichsam eine "stehende". Sie hat weder Anfang noch Ende. Aristoteles kennt weder Weltschöpfung noch Weltuntergang, nur ein ewiges Weltensein, das eben Bewegung ist. Die Entwicklungsstufen dieser Bewegung sind daher nicht als zeitlich aufeinanderfolgende, sondern als gleichzeitig neben- oder übereinanderliegende zu verstehen.

   Auf der untersten Stufe des Seins, gewissermaßen an der untern Grenze der Welt, eigentlich noch nicht zu ihr selbst gehörend, sondern ihr als allgemeinste Möglichkeit zugrundeliegend, haben wir die reine, noch von keiner Form durchdrungene Materie. Sie ist das völlig Unbestimmte, aber alle Möglichkeiten in sich Tragende.

   Sodann haben wir eine erste Stufe ihrer Durchformung in den Erscheinungen des Anorganischen. Hier wirken die Formkräfte noch am schwächsten. Wir haben es da zu tun mit den vier Elementen: Erde, Wasser, Luft, Feuer und den ihnen in verschiedenem Grade innewohnenden Tendenzen des Aufsteigens und Absinkens. Was an Formen im Anorganischen auftritt, entsteht durch zufällige Mischungen der Elemente und ist noch nicht Ausdruck eigener Formkräfte.

   Sinneserscheinungen, die unmittelbar als solche ideelle Formkräfte offenbaren, treten erstmals im Pflanzenreich auf. In noch höherem Maß ist dies der Fall im tierischen und schließlich im menschlichen Reiche.

   Mit dem letzteren kommen wir, in einer bestimmten Richtung der Seinsbetrachtung uns bewegend, bereits an die obere Grenze der Welt. Überschreiten wir diese, so gelangen wir an den entgegengesetzten, schon nicht mehr zur Welt selbst gehörigen Pol derselben: zur reinen Form, die sich nicht mehr in einem Stoffe verkörpert, sondern sich selbst gestaltet, sich gleichsam selber zum Stoffe wird. Indem sie sich selber ergreift, wird ihre Wirksamkeit hier zum Denken, und zwar zum sich selbst denkenden Denken. Es ist dies der aristotelische Gottesbegriff.

   Dieser ganze, hier freilich nur von einem bestimmten Gesichtspunkt skizzierte Aufbau seines Weltbildes zeigt, daß Aristoteles die Welt von der genau entgegengesetzten Seite betrachtet wie Plato. Dieser fragt nach ihrem Woher, jener nach ihrem Wohin. Dieser sieht nach ihrem Ausgangspunkte, jener nach ihrem Zielpunkte hin. Diese Verschiedenheit liegt aber schon in ihrer verschiedenen Fassung des Ideenbegriffes begründet. Für Plato sind die Ideen die Ur- oder Vorbilder der Sinneserscheinungen; für Aristoteles bezeichnen sie die Ziele, nach denen die Entwicklung oder Gestaltung der Sinneserscheinungen hinstrebt (Entelechien). Der Platonischen Philosophie liegt der Schöpfungs-, der Aristotelischen der Entwicklungsgedanke zugrunde. Plato geht von Gott aus und steigt zur Natur herab, ohne diese völlig zu erreichen. Er hat im Grunde noch keinen spezifischen Naturbegriff. Ein solcher begegnet uns zum S26 erstenmal bei Aristoteles. Dieser geht von der Natur aus und erhebt sich von ihr zum Göttlichen. Aber sein Gottesbegriff ist ein sehr merkwürdiger. Für Plato steht Gott als Weltenbaumeister am Anfang der Schöpfung; für Aristoteles am "Ende" der Weltentwicklung. Zwar nennt auch er Gott den "ersten Beweger"; er läßt von ihm den Anstoß zum ganzen Weltgeschehen ausgehen. Aber Gott bewegt die Welt nicht "von sich weg", sondern "zu sich hin": als ihre End- oder Zweckursache. Die Welt ist in Bewegung, weil sie zu Gott hinstrebt. Wie die reine Stofflichkeit noch von keiner Form gestaltet ist, so ist Gott als die reine Form von keiner Stofflichkeit mehr getrübt. Er weiß im Grunde nichts mehr von der Welt, da er nur sein eigenes Wesen zum Inhalte hat. Nur in den mittleren Teilen der Welt durchdringen sich Form und Stoff: an ihren Polen fallen sie auseinander.

   Aber selbst, wo sie sich überkreuzen, wird es, wie angedeutet, nicht völlig klar, worin ihre Einheit liegt. Auf der einen Seite betont Aristoteles, daß volles Sein (Substanzialität) nur den Einzeldingen zukomme; das würde darauf hindeuten, daß im Stoffelemente der Grund ihres Seins liege. Andrerseits aber erklärt er ebenso entschieden, daß im Begriffe der Dinge ihr wahres Sein gegeben sei. Nun unterscheidet er zwar allgemeine (Gattungs-, Art-) und individuelle Begriffe. Aber selbst der individuellste Begriff ist als Begriff doch immer ein Allgemeines, verglichen mit den Sinneserscheinungen, da er immer mehreren Exemplaren derselben gemeinsam ist.

   Dieselbe Unstimmigkeit ergibt sich hinsichtlich Stoff und Form. Da der Stoff das Unbestimmte ist, müßte ihm eigentlich das Merkmal des Allgemeinen zukommen. Doch sieht Aristoteles in ihm den Grund der Vereinzelung. Und da die Form dem Stoffe erst bestimmte erfaßbare Prägung verleiht, müßte von ihr eigentlich die Individualisierung herrühren. Doch schreibt ihre Aristoteles das Merkmal der Allgemeinheit zu.

   Ím Einklange mit seiner Gesamtweltanschauung steht nun auch des Aristoteles Bild vom Menschen. Plato gewinnt das seinige, direkt vom Kosmos zum Menschen, genauer: von der Weltschöpfung zur Menschenschöpfung herabsteigend, ohne den Umweg über die irdischen Naturreiche zu nehmen. Ja, er läßt im "Timäus" die Tiere sogar erst vom Menschen abstammen. Der Mensch in seiner leiblich-seelisch-geistigen Wesenheit ist ihm eine Nachbildung und Wiederholung im Kleinen von der leiblich-seelisch-geistigen Organisation des Kosmos. Aristoteles dagegen gelangt umgekehrt von der irdischen Natur aufsteigend zum Menschen. In der Pflanze findet er die ernährende Seele, im Tiere kommt dazu die empfindende, im Menschen schließlich die vernünftige Seele. Durch die letztere ist der Mensch ein erkennendes Wesen, d.h. imstande, das Begriffselement des Seienden denkend zu erfassen. Doch wirkt in dieser seiner denkenden Tätigkeit jener schöpferische Verstand d.h. jenes auf das Ideelle selbst sich richtende geistige Gestalten, das wir oben als die Wesenheit Gottes kennenlernten. So ist in diesem tätigen Denken das Menschliche an das Göttliche geknüpft. Aristoteles bezeichnet daher auch das begriffegestaltende Denken als dasselbe Einheitliche in allen Menschen. Es ist zugleich jenes Allgemeine, das allen einzelnen Menschen gemeinsam ist und von ihrem Persönlich-Individuellen unterschieden werden muß. Sonach wäre also das S27 Persönliche mehr in der empfindenden Seele des Menschen zu suchen (wie es später die Araber getan haben) oder wenigstens im "leidenden Verstand", den Aristoteles noch vom tätigen (gewissermaßen als das Stoffelement im Verstande selbst) unterscheidet. Andrerseits lassen aber seine Schilderungen den tätigen Verstand doch wieder als den Kern der menschlichen Individualität erscheinen, als dasjenige, dem Aristoteles allein eine Fortdauer nach dem Tode zuschreibt. Auch hier, gegenüber dem Menschen ist also die Frage nach dem Verhältnis des Einzelnen und Allgemeinen bzw. nach dem, was eigentlich die Einheit des menschlichen Wesens ausmacht, nicht befriedigend geklärt. In gewisser Weise bleibt auch hier ein Dualismus bestehen.

   Dieselben Verhältnisse wie in seiner Seinslehre treffen wir nun auch in Aristoteles' Erkenntnislehre an. Wie er dort Begriff und Sinneserscheinung oder Form und Stoff als gleichgewichtige Komponenten des Seins aufweist, so sind ihm hier Denken und Wahrnehmen gleichgewichtige Komponenten des Erkennens. Er selbst hat diese beiden Betätigungen auch in so gleichmäßiger Meisterschaft geübt, wie dies wohl in der ganzen Philosophiegeschichte kein zweites Mal wieder vorgekommen ist. Wie nun aber in der Ontologie sein ganzes Streben darauf hinzielte, das Verhältnis von Form und Stoff bzw. deren Zusammengehörigkeit klarzustellen, so ging er in der Erkenntnislehre darauf aus, Wahrnehmen und Denken zum rechten Zusammenwirken zu bringen. Wie ein solches erreicht werden könne, hat er in seinen logischen Schriften zu zeigen gesucht. So sehen wir hier in den Grund hinein, der ihn zur Ausarbeitung desjenigen Werkes führte, das vielfach als seine hauptsächlichste und eigenste Leistung angesehen wird: seiner Logik. Es war dieser Grund ganz derselbe, der ihn auch zur Ausgestaltung der oben skizzierten Seinslehre veranlaßte: er lag in der Eigenart seines gleichmäßig auf die Wahrnehmung wie auf den Begriff gehenden Welterlebens. In der Tat müssen auch seine Logik und seine Ontologie in gewisser Weise als eine zusammengehörige Einheit betrachtet werden. Es ist dies dadurch bedingt, daß, wie oben ausgeführt wurde, für den Griechen der Begriff noch in Einheit Bestandteil des Weltenseins und Inhalt der menschlichen Erkenntnis ist. Seine ontologische und seine logische Bedeutung sind nur die beiden Seiten derselben Tatsächlichkeit. Daher bringt auch die aristotelische Logik nur den "subjektiv-formalen" Aspekt desselben zur Darstellung, was seine Ontologie vom "objektiv-inhaltlichen" her charakterisiert. (Die Lehre von den Kategorien d.h. den allgemeinsten Begriffen z.B. wird in beiden Werken abgehandelt.)

   Nun hatten wir ja gesehen, daß ontologisch der Begriff als das Moment des Allgemeinen, die Sinneserscheinung als das des Einzelnen bestimmt worden war. Weiter sahen wir, daß die Durchdringung dieser beiden Elemente in den verschiedensten Graden stattfindet, woraus sich die Reihe der Seinsstufen ergibt. Es erfährt dadurch also auf der einen Seite die Erscheinungswelt eine Gliederung in die Stufenfolge der Naturreiche, deren Gebilde - vom Mineral bis zum Menschen herauf - als einzelne in immer höherem Maße ein Allgemeines verkörpern. Andererseits erfährt dadurch aber auch die Begriffswelt eine Gliederung in eine Stufenreihe von Begriffen, die von den allgemeinsten bis zu ganz speziellen herabsteigen. S28

   Wenn wir nun das Erkennen als das Erfassen der Begriffe bezeichnen, worin besteht es im Konkreten? In nichts anderem als darin, daß wir die Stelle bestimmen, an der ein Begriff (A) innerhalb des gesamten Begriffssystems steht. Dies bringen wir dadurch zum Ausdruck, daß wir sein Untergeordnetsein unter einen bestimmten Begriff (B) behaupten. Diese Behauptung erfolgt in Form eines Satzes, eines Urteils. Worauf begründet sich aber dieses Urteil? Darauf, daß uns zwei andere Unterordnungsbeziehungen bereits bekannt sind: nämlich das Untergeordnetsein des Begriffs A unter einen Begriff C und dasjenige des Begriffs C unter den Begriff des B. Wir nennen diese Gewinnung des Urteils einen Schluß. Er besteht darin, daß aus zwei bereits bekannten, in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehenden Urteilen ein drittes abgeleitet wird. Er ist das wichtigste Erkenntnismittel des philosophierenden Bewußtseins und wird daher von Aristoteles in seiner Logik am ausführlichsten behandelt. Das oben gegebene Beispiel repräsentiert freilich nur eine, allerdings die wichtigste Art des Schlusses: nämlich den positiven und allgemeingültigen. Von ihm unterscheidet sich der negative, der dann eintritt, wenn einer von den Obersätzen oder beide einen negativen Inhalt haben. Neben dem allgemein gültigen gibt es dann noch den teilweise und den nur für einen Einzelfall gültigen. Sie entstehen dadurch, daß das Verhältnis zwischen den Obersätzen in bestimmter Weise sich ändert. Um welche Art des Schlusses immer aber es sich handle, in jedem Falle setzt die schlußfolgernde Bestimmung eines Begriffes die Kenntnis von ihm übergeordneten, allgemeineren Begriffen voraus. Und so nimmt dieses ganze ableitende oder deduzierende Erkenntnisverfahren seinen Ausgang von gewissen allgemeinsten Begriffen, die selber nicht mehr aus noch allgemeineren abgeleitet werden können. Damit erhebt sich die Frage, wir wir zu diesen allgemeinsten Begriffen kommen.

   Zu diesen führt nun der andere Weg der Erkenntnis, den Aristoteles neben dem absteigenden, deduktiven unterscheidet: nämlich der aufsteigende Weg der Induktion. Er geht aus von der Beobachtung der Sinnestatsachen, besteht aber in seiner aristotelischen Gestaltung nicht darin, daß man im Sinne Platos sich von den Sinneserscheinungen abwendet, um zur Anschauung der Ideen zu gelangen, sondern darin, daß man die letzeren im Felde der Sinnesphänomene selbst aufsucht. Dies geschieht dadurch, daß man von Einzeltatsachen ausgeht, das ihnen mit andern Tatsachen Gemeinsame feststellt und so allmählich zu Einsichten von immer allgemeinerer Gültigkeit aufsteigt. Freilich kann auf diesem Wege niemals zu Erkenntnissen von unbedingter Sicherheit gelangt werden, da sich auf ihm das Moment des Zufälligen, das den Erscheinungen von ihrer Stoffesseite her anhaftet, nicht ganz abstreifen läßt. Aristoteles schiebt daher, um dem Übergang zur Ideenerfassung größere Sicherheit zu verleihen, gewissermaßen zwischen Induktion und Deduktion ein drittes Verfahren ein: das dialektische, das er in seiner "Topik" beschreibt. Bei diesem geht man weder von sinnlichen Einzelheiten noch von Allgemeinbegriffen aus, sondern von bestehenden Meinungen, die aber entweder wegen ihres hohen Alters oder wegen der Autorität ihrer Urheber den Anspruch auf Wahrscheinlichkeit erheben dürfen. Indem man - am besten im Wechselgespräch - die Gründe erwägt, die für oder wider diese Meinungen sprechen, S29 allenfalls in ihnen enthaltene Fehlschlüsse entdeckt, oder aber die Widersprüche, falls solche zwischen ihnen bestehen, dadurch zu beheben sucht, daß man die verschiedenen Gesichtspunkte, die ihnen zugrundeliegen, herausarbeitet usw., strebt man dem tatsächlichen Sachverhalte nahezukommen. Sowohl Induktion wie Dialektik haben freilich zuletzt nur den Zweck, im erkennenden Menschen die geistigen Augen zu öffnen, durch welche die allgemeinsten Ideen erschaut werden können. Denn wirklich erfassen lassen sich die letzteren ausschließlich durch eine rein geistige Schau, welche den Charakter einer unmittelbaren geistigen Offenbarung hat. Aber diese geistige Schau steht dem Menschen nicht unmittelbar zur Verfügung; sie muß erst durch Induktion und Dialektik angeregt werden. So gewinnt Aristoteteles selbst z.B. in seiner Metaphysik durch eine umfassende dialektische Auseinandersetzung mit den Auffassungen der gesamten ihm vorangehenden Philosophie die Grundprinzipien seiner Ontologie.

   Wir haben in seinem Sinne also im Grunde ein dreifaches, wissenschaftliches Verfahren zu unterscheiden: Induktion, Deduktion, Dialektik. Obzwar die Gegenpole der Induktion und der Deduktion bei ihm in hohem Grade das Gleichgewicht halten, so zeigt doch die Art, wie er die Dialektik zwischen sie hineinschiebt, um sie miteinander zu verbinden, daß es ihm hier ebensowenig gelungen ist, aus den beiden Gegensätzen allein eine wirkliche Einheit zustandezubringen, wie er in der Ontologie aus Form und Stoff, dem Allgemeinen und Einzelnen eine wirkliche Einheit zu gestalten vermochte.

   Von großer Wichtigkeit ist schließlich eine weitere Charakteristik, die Aristoteles von den beiden Erkenntniswegen der Induktion und der Deduktion gibt. Die erste geht vom Erkenntnissubjekt aus und stellt das Werden des Wissens in ihm dar; denn für den Menschen ist das erste die Sinnesbeobachtung und das letzte die Bestimmung des zu dieser gehörigen Begriffs. Die letztere geht vom Erkenntnisobjekt aus und spiegelt das Werden seines Seins wieder; denn der allgemeine Begriff ist das Frühere und erst durch seine Verbindung mit dem Stofflichen erfährt er eine Besonderung. Der Ableitung des spezielleren Begriffs aus einem allgemeineren entspricht also das reale Werden des Einzeldings durch Verwirklichung einer allgemeineren Idee. Das Wesen derjenigen Erkenntnis, die der Forscher anstrebt, besteht also in einer Vermittlung zwischen Mensch und und Welt, genauer: zwischen dem subjektiven Werden der Erkenntnis im Menschen und dem objektiven Werden der Dinge aus dem Ganzen der Welt heraus. Aristoteles nennt diese Erkenntnis daher auch die vermittelte. Sie hat den subjektiven Ausgangspunkt und Grund ihrer Möglichkeit in dem sinnlichen Wahrnehmen des Menschen, den objektiven in dem Sichgestalten der Dinge aus der Idee heraus. Nun ist aber für Aristoteles die Sinneswahrnehmung selbst noch kein Wissen oder Erkennen, sondern ein bloßes Meinen oder Glauben. Das Aufsteigen von derselben zum (entsprechenden) Begriff d.h. der subjektive Weg des Erkennens ist daher ein solcher vom Nichtwissen zum (vermittelten) Wissen. Die Erfassung der allgemeinen Idee dagegen ist für ihn, wie schon erwähnt, eine geistige Offenbarung der Welt an den Menschen oder, wie er sich ausdrückt: ein unmittelbar gewisses Wissen. Die Gewißheit des letzteren mindert sich jedoch in dem Grade herab, als von den allgemeineren zu den spezielleren Begriffen herabgestiegen wird. S30 Die wissenschaftliche Erkenntnis oder das vermittelte Wissen, das sich auf spezielle, in bestimmten Erscheinungen enthaltene Begriffe bezieht, ist daher ein Mittleres, das (subjektiv) vom Nichtwissen her, (objektiv) von einem unmittelbar gewissen Wissen her zustandekommt. Und es hält auch dem Grade seiner Gewißheit nach die Mitte zwischen Nicht-Wissen und unbedingter Gewißheit. Da es sich auf eine Form bezieht, die im Stoffe, wegen dessen Widerständen, nur mehr oder weniger rein zum Ausdrucke kommt, kann es nur den Charakter größerer oder geringerer Wahrscheinlichkeit haben. Man sieht hieraus, daß im Sinne des Aristoteles der Mensch in derjenigen Erkenntnis, die er durch seine eigene Tätigkeit erwirbt, nichts Neues hervorbringt, sondern nur von verschiedenen Seiten her Gegebenes bzw. Geoffenbartes nach bestimmten Regeln miteinander vermittelt.

   Fassen wir nun das Ganze des Wissens ins Auge, so haben wir es also zu gliedern in unmittelbar gewisses (geistig geoffenbartes) und vermitteltes Wissen. Das erstere hat freilich, wie wir sahen, nur die allgemeinsten Ideen zum Inhalte, die sich auf die Struktur der Welt im Ganzen beziehen; das letztere dagegen die spezielleren Begriffe, die in einzelnen Erscheinungen verkörpert sind. Demgemäß gliedert Aristoteles in der Tat auch das Ganze des menschlichen Wissens - und glieder sich auch das Ganze seines Erkenntniswerkes - in zwei Teile: der eine - den er die "erste Philosophie" nennt - beinhaltet seine Ontologie (Seinslehre) und die mit dieser zusammenhängende Logik (Erkenntnislehre). Er enthält die allgemeinsten Begriffe von der Beschaffenheit des Seienden und den Bedingungen seiner Erkenntnis. Er wird von Aristoteles selber als das sicherste Wissen bezeichnet und ist als aus geistiger Ideenoffenbarung erflossen zu betrachten. Der andre Teil umfaßt alles vermittelte Wissen d.h. die Gesamtheit seiner zahlreichen spezialwissenschaftlichen größtenteils naturwissenschaftlichen Schriften, die sich mit einzelnen Erscheinungsgebieten beschäftigen. Den ersten Teil: die Ontologie hat er, wenn auch in andrer Ausgestaltung, mit Plato und der gesamten früheren griechischen Philosophie noch gemeinsam. Was bei ihm nicht mehr erscheint, ist eine Weltschöpfungslehre, die in der vorangehenden griechischen Philosophie bis Plato hin sich noch findet. Aristoteles weiß nichts mehr von einer Weltentstehung, nur noch von einem Weltensein. Der zweite Teil: die naturwissenschaftlichen und sonstigen spezialwissenschaftlichen Werke, tritt bei ihm zum erstenmal, als Neues in der Philosophiegeschichte auf. Er ist nicht bloß Philosoph, sondern zugleich der erste Gelehrte, Natur- und Kulturforscher und insofern der erste Vorläufer der modernen Wissenschaft. Auf die philosophische Nachwelt des folgenden Jahrtausends in Europa ist zunächst nur seine "erste Philosophie" gekommen und hat diese maßgebend beeinflußt. Seine Naturwissenschaft dagegen ist erst auf dem Umweg über den Arabismus und durch diesen teilweise umgestaltet im späteren Mittelalter nach Europa gelangt. Sie unterscheidet sich von derjenigen der neueren Zeit dadurch, daß ihre Inhalte nicht, wie die der letzteren, nur aus einer Erkenntnisquelle fließen: der subjektiven der Sinnesbeobachtung, sondern zugleich noch aus einer zweiten: der objektiven seiner Seinslehre, die auf geistiger Ideenoffenbarung beruht. Insofern kann im Anklang an mittelalterliche Vorstellungen behauptet werden, daß auch für ihn die menschliche Erkenntnis ihrem Kernstück nach die S31 Aufgabe hatte, zwischen Sinnesanschauung und geistiger Offenbarung zu vermitteln. Nur war die "geistige Offenbarung" für Aristoteles nicht wie diejenige, auf die sich dann das Mittelalter stützte, eine durch ein historisches Ereignis einmalig gegebene und religiös geartete, sondern gewissermaßen noch eine naturhafte und als solche auch mehr auf die natürliche Welt sich beziehende. Freilich sind in diese, weniger deutlich bemerkbar, außerdem historisch überlieferte, ursprünglich in Mythenform empfangene und aus dem älteren Mysterienwesen stammende Geistesoffenbarungen miteingeflossen. Und so darf behauptet werden, daß in die Inhalte der aristotelischen Wissenschaft, insofern diese durch seine "erste Philosophie" bedingt sind, die letzten Erbschaften einer einstmaligen geistigen Uroffenbarung der Menschheit, in gedanklicher Form umgegossen, hineingearbeitet sind.

   Das griechische Erkenntnisleben, so sagten wir im Eingange seiner Schilderung, bewegte sich wesentlich im Elemente des Begriffs, des Gedankens. Die Ausgestaltung dieses Elements hatte in Plato und Aristoteles ihren Höhepunkt erreicht. Von da an erlahmt allmählich die Kraft, sich in diesem Elemente zu bewegen und es weiter durchzubilden. Damit hört die Möglichkeit auf, den griechischen Erkenntnisbegriff durch Herausarbeitung seiner Momente weiterzuentwickeln. Denn im Sinne desselben besteht ja das Erkennen, wie wir sahen, in einem bestimmt gearteten Erfassen des Begrifflichen. Neben dieser eigentlich philosophischen Erkenntnisweise hatte nun Aristoteles die auf der Beobachtung von Sinnestatsachen beruhende spezialwissenschaftliche Forschung begründet. Freilich wurden deren Inhalte, wie wir andeuteten, bei ihm zugleich von der objektiven Seite her durch die Aufstellungen seiner Ontologie bestimmt und dadurch erst zum Range wirklicher Erkenntnisse erhoben. In dem Maße jedoch, als dieser philosophisch-ontologische Hintergrund - infolge erlahmender denkerischer Energie - verblaßte, wurde die einzelwissenschaftliche Forschung mehr und mehr ein bloßes Sammeln und Beschreiben von Tatsachen. Diese Richtung hat in der Tat das griechische Erkenntnisleben in der nacharistotelischen Zeit im wesentlichen eingeschlagen. An die Stelle der Philosophie trat die Gelehrsamkeit, wie sie dann namentlich in Alexandria ihren Mittelpunkt fand. Wenn auch die Leistungen der dortigen Schule sowohl auf naturwissenschaftlichem wie auf philologisch-historischem Gebiete für ihre Zeit großartige waren, kann man sie doch nicht denen der modernen empirischen Forschung an die Seite stellen. Der Schwerpunkt des seelischen Erkenntnislebens der Menschheit lag damals eben doch in der Sphäre des Gedankens. Sie konnte daher noch nicht mit der vollen Wucht ihres Interesses und ihrer Seelenkräfte in die Welt der Sinneserfahrung untertauchen. Um dazu zu gelangen, mußte sie erst eine abermalige durchgreifende Umgestaltung ihres Bewußtseins durchmachen. Daß sie sich damals der Sinneswelt vornehmlich zuwandte, hatte lediglich darin seinen Grund, daß die Denkkraft als ihre zentrale Seelenkraft erlahmt war. Es war also eine Alterserscheinung der damaligen Kultur. Darum hat diese Hinwendung zur Tatsachenforschung damals auch nicht zur Herausbildung eines neuen Erkenntnisbegriffes geführt, sondern im Gegenteil Hand in Hand gegangen mit einem Verfall des klassischen griechischen Erkenntnisbegriffes, mit einem Absterben des eigentlichen Erkenntnisstrebens, ja mit einem fortschreitenden Verzweifeln an der S32 Möglichkeit des Erkennens überhaupt. Man sieht dies, wenn man die drei hauptsächlichen Schulen der späteren griechischen Philosophie ins Auge faßt: die Skeptiker, Stoiker und Epikuräer.

   Schon die Skeptiker (zuerst vertreten durch Pyrrhon) erlebten die Begriffe nicht mehr als etwas, das dem Menschen mit der Welt gemeinsam ist und ihm daher deren Erkenntnis ermöglicht, sondern nur mehr als ein Erzeugnis der Überlieferung und Gewöhnung, das mit den Dingen selbst nichts zu tun hat. Da aber auch die Sinneserfahrung uns die Dinge nur so zeigt, wie sie uns erscheinen, nicht wie sie an sich sind, so ist nach skeptischer Auffassung eine Erkenntnis derselben überhaupt nicht möglich. Für denjenigen, der diese Sachlage durchschaut hat, ergibt sich als Konsequenz daraus die Enthaltung von jeglichem Urteil. Noch mehr wenden sich vom Elemente des Gedankens ab die Stoiker; sie sehen überhaupt nur mehr auf die Beziehung hin, welche die Sinne zwischen Mensch und Welt herstellen. Diese ist für sie die einzige, die zwischen beiden besteht. Aber diese Beziehung ist für sie nicht eine solche des Verbundenseins, sondern des äußerlichen Einandergegenüberstehens. Der Mensch vermag nicht
erkennend in das Innere der Dinge einzudringen; er verbleibt immer außerhalb derselben und sie bleiben ihm äußerlich. Er findet sich auf sich allein gestellt und vereinsamt in der Welt. Damit hört das Erkenntnisinteresse schlechterdings auf und bleibt nur mehr ein moralisch-praktisches Interesse übrig; nämlich die Frage: welches ist unter diesen Umständen das richtige Verhalten? Das Eigentümliche der Stoischen Morallehre liegt jedoch darin, daß auch sie nicht mehr einen objektiven, allgemein-verbindlichen Inhalt aufstellt, sondern ganz subjektivistisch gerichtet, sich nur auf den einzelnen als solchen bezieht. Denn da sich der Mensch jetzt - infolge des Verfalls seiner Denkkraft - nicht nur nicht mit den äußeren Dingen innerhalb eines Weltganzen, sondern auch nicht mehr mit andern Menschen innerhalb eines Allgemein-Menschlichen verbunden fühlt, so kann sich die moralische Frage nur mehr auf sein Verhalten als ganz "ver-einzeltes" Wesen beziehen. Die Stoische Antwort auf diese Frage lautet bekanntlich: Alles Äußere, sei es Freudiges oder Trauriges, Lust- oder Leidvolles, sich völlig gleichgültig werden lassen und in jedem Augenblicke des Lebens die innere Ruhe, das Beisichselbstsein bewahren. Anders wurde die Frage von Epikur und seinen Schülern beantwortet: Ihnen galt als das richtige Verhalten der Genuß der größtmöglichen Lust, welche das Leben in der physisch-sinnlichen Welt zu gewähren vermag. Nur erblickten sie - und darin kommt wieder das Altern der Kulturwelt, in der sie lebten, zum Ausdruck - das Höchstmaß der Lust nicht in etwas Positivem, sondern in etwas Negativem: nämlich in dem größtmöglichen Vermeiden von Unlust.

   Eine andre Möglichkeit schließlich, die der ausgehenden Antike verblieb, war diejenige, die sich solchen Menschen eröffnete, die auch damals noch von einem ernsten Erkenntnisdrange beseelt waren. Da das Denken in jener Zeit nicht mehr in der früheren Art als Erkenntniskraft erlebt und betätigt werden konnte, die bloße Sinneswahrnehmung aber ihrer Natur nach keine Erkenntnis liefert, so suchten solche Menschen jene Erlebnisart in sich wiederherzustellen, die einstmals, in älteren Zeiten, vor dem Erwachen des Denkens bestanden und bis zu einem gewissen Grade selbst noch bis in die Platonische Philosophie S33 hinein nachgewirkt hatte: eine übergedankliche, geistig schauende bzw. in mythologischer Bildhaftigkeit lebende. Mit diesem Streben vermischte sich zugleich vielfach dasjenige, eine innere Verwandlung und geistige Erweckung der Seele durchzumachen in der Art, wie sie einstmals in den alten Mysterien erlebt worden war. Das war der Weg, den die Neuplatoniker, ein Plotin, Jamblichus, Proklus u.a. beschritten. Wie die Skeptiker und Stoiker in eine Sphäre hinabgesunken waren, die unterhalb des Begrifflich-Gedanklichen liegt, so suchten die Neuplatoniker sich in eine solche zu erheben, die oberhalb desselben west.

_______________________________________

Nächstes Kapitel: Das Mittelalter