Anthroposophie        =           Dreigliederung

Impuls - Reaktion - Inkarnation   1919 - 1969 - 2019    Geschichte - Quellen - Material

Erster Teil
5. Vom West-Ost-Kongreß in Wien
bis zum Tode Rudolf Steiners
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    Ich war mit der Aufgabe nach Wien geschickt worden, den für Juni dort geplanten West-Ost-Kongreß journalistisch und vortragsmäßig mit vorzubereiten. Ich fand, als ich Anfang Februar 1922 dort eintraf, den damaligen Geschäftsführer der dortigen Gruppe des Bundes für Dreigliederung, Herrn Hermann Eichenberger, bereits mit der organisatorischen Vorbereitung desselben beschäftigt. Da unsere Obliegenheiten derselben Sache dienten, kamen wir uns bald freundschaftlich nahe und sind es fürs Leben geblieben. Mit meiner journalistischen Aufgabe sah ich mich an Herrn Josef van Leer gewiesen, der, aus Holland stammend, in Wien damals ein florierendes Holz-Großhandelsgeschäft betrieb. Er finanzierte in großzügiger Weise den ganzen Kongreß aus seiner Tasche und war um weitestgehende Bekanntmachung desselben in der Öffentlichkeit bemüht. Er hatte gute Beziehungen zur österreichischen und ausländischen Presse und brachte einige Dutzend Aufsätze, die ich über die Absichten und die Bedeutung des Kongresses verfaßte, in ihr unter. Was meine Vortragstätigkeit betraf, so sollte sie zunächst in erster Linie der studentischen Jugend gelten; denn auch an der Wiener Universität bestand eine Gruppe unseres anthroposophischen Hochschulbundes. Als Vortragender wirkte innerhalb derselben hauptsächlich Dr. Ludwig Thieben, ein Jurist, der ein Jahr vorher aus mehrjähriger russischer Kriegsgefangenschaft in Sibirien heimgekehrt war, in der er die Anthroposophie kennengelernt hatte. Er absolvierte damals die letzten Semester seines Studium. Er hatte sich bereits aufs gründlichste in die Anthroposophie eingearbeitet, war ein guter Redner und ein scharfer Denker, dessen (S54) geistige Interessen mehr als in seinem Berufsfach im Gebiete der Philosophie lagen, und er hat dann durch die ganzen fast zwei Jahrzehnte, die zwischen den beiden Weltkriegen lagen, mit mir zusammen in der Hauptsache die öffentliche anthroposophische Vortragstätigkeit in Wien bestritten. Eine gütige, gemütvolle Seele, wurde er mir bald ein lieber Freund und Arbeitskollege, und es bedeutete für mich einen tiefen Schmerz, als er nach dem Anschluß Österreichs an Hitlerdeutschland wegen seiner jüdischen Abstammung in das tragische Schicksal mithineingerissen wurde, dem so viele unserer Wiener anthroposophischen Freunde zum Opfer gefallen sind. Eine seiner letzten Publikationen war das bedeutende Buch "Das Rätsel des Judentums", in welchem er Mission und Schicksal dieses Volkes aus anthroposophischer Sicht tiefdringend durchleuchtete.

    Vor meiner Abreise aus Stuttgart hatte mir Dr. Walter Johannes Stein, der von meinem Pech mit meiner Dissertation gehört hatte, geraten, es mit ihr in Wien zu versuchen; denn auch er hatte dort mit einer "anthroposophischen" Dissertation doktoriert. So schickte ich denn bald nach meiner Ankunft in Wien meine Troxler-Arbeit der dortigen Universität ein. - und siehe da: nach einigen Wochen erhielt ich den Bescheid, sie sei angenommen, und die Aufforderung, an einem bestimmten Tage zu Doktorexamen zu erscheinen. Ich besuchte nun einigemale die Vorlesungen der Professoren (in Philosophie und Geschichte), die mich zu prüfen hatten, um sie kennenzulernen, und stellte mich ihnen kurz vor dem Examen auch persönlich vor. Meine Vorbereitung bewerkstelligte ich, da ich die hierfür notwendige Fachliteratur nicht bei mir hatte, in der Hauptsache - ich darf es kaum verraten - mittels Meyers Konservationslexikon, das ich auf einem Bücherbrett in dem Zimmer, in dem ich wohnte, vorgefunden hatte. Es kamen mir außerdem eine Reihe weiterer, fast unglaublicher Glücksumstände zu Hilfe: Kurz - ich bestand am festgesetzten Tage mein Examen und konnte mein Doktordiplom im Rahmen einer feierlichen Promotion genau an dem Tage in Empfang nehmen, an dem der anthroposophische Kongreß begann. So hatte ich, noch nicht 23 Jahre alt, nach einer Studienzeit, die, zwar nicht der Formalität, (S55) aber der Realität nach nicht mehr als sechs Semester gedauert hatte, diesen akademischen Titel erworben.

   Für mich selbst arbeitete ich während dieser ersten Wiener Zeit die vier Bände (der Erstausgabe) von Schellings Philosophie der Mythologie und der Offenbarung durch, und dieses Studium, im Zusammenhang mit dem Blick auf die große Wendung, die in Schellings Leben von der "negativen" zur "positiven", das heißt, von der Naturphilosophie seiner ersten Hälfte zur Geschichts- beziehungsweise Offenbarungsphilosophie seiner zweiten sich vollzog, bedeutete für mich eine grundlegende Klärung meiner Auffassungen über das Verhältnis von Natur und Geschichte beziehungsweise zwischen Natur- und Geschichts- beziehungsweise Geist-Erkenntnis. Es stellte sich vor meine Seele die Idee hin, daß zu dem, was für seine Zeit Herder mit seinen "Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit" geleistet hatte, heute, nach dem vollen Durchgang durch die naturwissenschaftliche Epoche, ein unserer Zeit entsprechendes Gegenstück mit den methodischen Erkenntnismitteln der Anthroposophie zu schaffen sei. Einen derartigen Versuch habe ich mehr als 30 Jahre später in meinem dreibändigen Hauptwerk "Geschichte als Stufengang der Menschwerdung" ausgeführt.

   Nicht zuletzt aber bedeuteten die ersten Monate meines Wiener Aufenthalts für mich zugleich das Hineinwachsen in eine neue Welt: in die Welt Wiens und Österreichs. Was mir am ersten auffiel, war die ihrer nationalen Herkunft nach so stark gemischte Bevölkerung der Stadt, die sich auch in den aus einer Vielzahl von Sprachen stammenden Familiennamen ihrer Bewohner verriet. Sie erzeugte eine Buntheit von nationalen Seelenfarben in den Menschen, mit denen man es zu tun hatte, wie ich sie von meiner in dieser Beziehung so einfarbigen Heimat her nicht gekannt hatte. In dieser Bevölkerungszusammensetzung trat einem zuerst der Nachklang des ehemaligen Vielvölkerreiches entgegen, dessen Hauptstadt Wien bis vor kurzem gewesen war. Andererseits begegnete man in dem deutschen Elemente der Bevölkerung einem Deutschtum, das sich, zwar als österreichisches, aber doch als Deutschtum fühlte - war doch Wien durch Jahrhunderte die Hauptstadt des (S56) Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation gewesen und hatte sich doch nach dem Ersten Weltkrieg das von der Habsburger Monarchie übriggebliebene Rest-Österreich für den Anschluß an Deutschland entschieden. Nur durch das Diktat der Siegermächte wurde ihm dies verunmöglicht. Aber es war ein Deutschtum, das frei war von dem Beigeschmack des hohenzollerisch-nationalistischen Reichs-Deutschtum, - ein Deutschtum zarteren, feineren, seelisch sensibleren Charakters, gegenüber dem man sich als "Reichsdeutscher" seelisch gröber, härter empfand. Dieses seelisch weichere, differenziertere Wesen hatte seinen bezeichnenden Ausdruck darin gefunden, daß schon im Mittelalter der Minnesang in Walther von der Vogelweide hier seine feinsten und reichsten Blüten getrieben hatte und in der neueren Zeit Wien zur Welthauptstadt der Musik geworden war, in der seit Gluck und Haydn eine ununterbrochene Kette größter musikalischer Genien gelebt und geschaffen hatten bis zu Bruckner und Mahler, zu Strauß und Schönberg hin. Schließlich bezeugt sich derselbe Wesenszug auch darin, daß die architektonischen und bildnerischen Kunstdenkmäler, die Wien und Österreich, im ganzen genommen, sein Gepräge verleihen, der Blütezeit des musikalisch bewegten Barockstils entstammen.

   Nachdem es sich sogleich nach dem Kongreß entschieden hatte, daß ich weiterhin in Wien bleiben würde, erarbeitete ich mir im Laufe des nächsten Jahres auch durch die Lektüre geschichtlicher Darstellungen (namentlich derjenigen des Historikers H. v. Srbik) eine genaue Kenntnis der Geschichte Österreichs beziehungsweise des Habsburgerreichs, um mit dieser Welt ganz vertraut zu werden. Schließlich erwanderte ich mit Freunden nach allen Richtungen hin die so verschiedengestaltige nähere und fernere Umgebung der Stadt. Zum größten künstlerischen Erlebnis der ersten Zeit wurde mir die Musik Bruckners. Ich lernte sie nicht nur kennen durch Aufführungen seiner Werke unter der Leitung seiner Schüler Karl Löwe und Franz Schalk, sondern studierte alle seine Symphonien bis ins einzelnste durch, indem wir - der mir befreundete Schweizer Pianist Hermann Klug, der damals an der Wiener Musikakademie seine letzte Ausbildung absolvierte, und ich - sie vierhändig (S57) auf dem Klavier einübten und uns immer wieder zu Gehör brachten. Aber auch sonst wurde durch die musikalische Atmosphäre Wiens das Blut meiner musikalischen Ader wieder so stark erregt, daß ich in jenen ersten Jahren ein ganzes Bändchen voll Lieder komponierte.

   Nun aber endlich zum Kongreß! Er fand vom 1. bis 12. Juni 1922 in allen Räumen des Musikvereinsgebäudes statt: der Stätte so vieler bedeutsamer Ereignisse der Wiener Musikgeschichte, und bildete wohl die größte öffentliche Veranstaltung, welche die anthroposophische Bewegung zu Lebzeiten Rudolf Steiners durchgeführt hat. Allabendlich hielt er, der in dem benachbarten Hotel Imperial logierte, im vollbesetzten großen Saal, das heißt vor etwa 2000 Zuhörern, seine von höchst geistiger Warte aus weite Horizonte eröffnenden und tiefe Einblicke erschließenden Vorträge über die west-östliche Weltgegensätzlichkeit. Außer den Anthroposophen, die in großer Zahl aus vielen Ländern herbeigeströmt waren, war auch "außenstehendes" Wiener Publikum stark vertreten, - die Wiener Presse referierte, freilich in den verschiedensten Tonarten: von würdigender Zustimmung bis zu verspottender Kritik, fast täglich über die Veranstaltungen. Die anthroposophische Bewegung bewies durch diese Tagung jedenfalls, daß sie als erste die große Weltproblematik von West und Ost, die der Geschichte unseres Jahrhunderts den Stempel aufdrücken sollte und noch weiter aufdrücken wird, in ihrer entscheidenden Bedeutung erkannt hatte und für die Erfüllung der aus ihr erwachsenden Forderungen Wege zu weisen unternahm. Aber das allgemeine Bewußtsein war damals noch weit entfernt von solchen Einsichten und Zielvorstellungen, und so hat auch jener Kongreß, im ganzen genommen, keineswegs jenes Echo des Verständnisses gefunden, das er verdient hätte. Ja, wenige Wochen nachher fand im Saal des Wiener Rathauses eine Gegnerveranstaltung der "Rudolf-Steiner-Gegner" statt, welche in Tönen schärfster Ablehnung und Verhöhnung über die Anthroposophen und ihren Kongreß herzogen.

   Rudolf Steiner hielt es für notwendig, daß die Bestrebungen des Kongresses weitergeführt würden, und schlug zu diesem Zwecke die Begründung einer in Wien herauszugebenden Zeitschrift vor, (S58) welche die West-Ost-Thematik weiter behandeln sollte. Er gab ihr den Titel "Anthroposophie, Österreichischer Bote von Menschengeist zu Menschengeist" und entwarf auch eine Skizze für die Gestaltung ihres Titelkopfs. Graf Polzer-Hoditz wurde mit ihrer Schriftleitung betraut. Er fragte mich, ob ich bereit wäre, mit ihm zusammen die Zeitschrift zu betreuen, und so übernahm ich dann, mit einem minimalen Gehalt, die eigentliche Redaktionsarbeit. Zur Finanzierung des Blattes, das in Zeitungsformat 14tägig erschien, erklärte sich wiederum in großzügiger Weise Herrn van Leer - zunächst für ein Jahr - bereit. Graf Polzer, der Bruder des ehemaligen Kabinettchefs Kaiser Karls, durch welchen im Jahre 1917 das Memorandum Rudolf Steiners über die soziale Dreigliederung dem Monarchen übermittelt worden war, war ganz in der Geisteswelt der Habsburgerherrschaft und des alten Österreich beheimatet und hat den letzten Repräsentanten dieser Dynastie in seinem Buch "Das Mysterium der europäischen Mitte" aus anthroposophischer Schau ein etwas problematisches literarisches Denkmal gesetzt. Der Zusammenarbeit mit ihm verdanke ich viel an intimeren Kenntnissen über diese Welt. Die Art, wie unsere Zeitschrift geführt wurde, war für ihre Verbreitung in der Öffentlichkeit freilich denkbar ungeeignet. Sie fand daher innerhalb derselben auch nicht das geringste Echo. Als nach einem Jahr Herr van Leer seine finanzielle Hilfe einstellte, ging sie sogleich ein. An ihrer Stelle gründete ich selbst dann die Monatsschrift "Österreichische Blätter für freies Geistesleben". Obwohl ich hierfür keinerlei Mittel zur Verfügung hatte, konnte ich sie, dank finanzieller Beihilfen fünf Jahre lang halten und zeitweise auf einen ansehnlichen Abonnentenstand bringen. Die Sekretärin, die Graf Polzer für seine Zeitschrift angestellt hatte, Fräulein Marta von Stefanovic, übernahm dann auch die Administration meiner Zeitschrift. Zwei Jahre später wurde sie meine Frau. Unsere Arbeitsgemeinschaft wurde zur Lebensgemeinschaft.

   In der Sylvesternacht 1922/23 wurde das Goetheanum in Dornach durch Brandstiftung zerstört. Ich war damals in Stuttgart und wohnte am Neujahrsmorgen der Trauung meines Freundes (S59) Johannes Eyberg in der Christengemeinschaft bei. Als Dr. Rittelmeyer erschien, um sie zu vollziehen, teilte er den Anwesenden die Nachricht von der Katastrophe mit, die er soeben telefonisch aus Dornach erhalten hatte. Wir waren starr vor Entsetzen und wie von einem Donnerschlag getroffen. Diese Brandstiftung war mit eine Folge der Gegnerschaft, welche die in den letzten Jahren durch ihre verschiedenen Tochterbewegungen wesentlich verstärkte öffentliche Wirksamkeit der anthroposophischen Bewegung hervorgerufen hatte. Unter den verschiedenen Schlägen, welche ihr von dieser Gegnerschaft versetzt wurden, war sie der schwerste. Durch sie war nicht nur ein Gebäude, nicht nur die zentrale Pflegestätte der Anthroposophie, sondern ein Kunstwerk vernichtet worden, mit welchem der Keim für eine Neugeburt aller bildenden Künste gelegt worden war.

   Aber nicht nur eine Gegnerschaft von außen her hatte die Entfaltung von Initiativen auf verschiedenen Lebens- und Berufsgebieten aus der Anthroposophie heraus erzeugt, sondern auch allerlei Schwierigkeiten und Konflikte innerhalb der anthroposophischen Bewegung selbst. Wie schon erwähnt, hatte sich an diesen Initiativen besonders die jüngere Generation beteiligt, während sich die ältere großenteils mit dem Studium und der Pflege der Anthroposophie im bisherigen Sinn begnügte. Das führte zu wachsenden Spannungen, die mir schon während meiner Heidelberger und letzten Stuttgarter Zeit entgegengetreten waren. Sie kamen zum vollen Ausbruch auf der Delegierten-Tagung der Anthroposophischen Gesellschaft in Stuttgart vom Februar 1923. Auf ihr sah und hörte ich Rudolf Steiner nach dem Goetheanum-Brand erstmals wieder. Der Schmerz über dieses Ereignis hatte sich tief in sein Antlitz eingegraben. In seinen Vorträgen erschloß er grundlegende Einblicke in das Wesen und die Notwendigkeit anthroposophischer Gemeinschaftsbildung. Als eine unerläßliche Bedingung derselben, weil sie weder auf gemeinsame Erinnerungen noch auf gemeinsame Auffassungen, sondern auf gemeinsames Tun, das heißt unmittelbar auf menschliche Individualitäten als solche gegründet ist, bezeichnete er die Übung einer gegenseitigen Toleranz zwischen ihren Mitgliedern, welche das Maß der in der sonstigen Welt geübten (S60) Toleranz weit übersteigen müsse, - ein Hinweis, dessen Mißachtung der Gesellschaft in den folgenden Jahrzehnten schwerste Schädigungen verursachte. Um die Spannungen zwischen den Generationen zu beheben, riet Steiner zur Bildung einer zweiten, "freien"´Gesellschaft der Jüngeren neben derjenigen der Älteren. Dieser Ratschlag rief zunächst auf beiden Seiten größtes Entsetzen hervor, trug in seiner Durchführung dann aber doch zu einer wesentlichen Milderung der Gegensätze bei.

   Doch noch in anderer Beziehung hatten die nach außen entfalteten Aktivitäten zu schweren Unzukömmlichkeiten geführt. Die tätig sein wollenden Mitglieder hatten sich großenteils so restlos der Arbeit in den Tochterbewegungen gewidmet, daß sie für diejenige in der Gesellschaft, und das bedeutete: für die Pflege der "Mutter", der Anthroposophie als solcher, keine Zeit und Kraft mehr übrig hatten. Das hätte auf die Dauer zur geistigen Verflachung, ja Versandung der Tochterbewegungen führen müssen. Die Arbeit in den verschiedenen Fachgebieten erforderte zur Gewährleistung ihrer geistigen Fruchtbarkeit vielmehr gerade eine entsprechend intensivere und immer erneute Hinwendung zu ihrer geistigen Quelle: der Anthroposophie. Freilich nicht mehr in der Art des bloß passiven Entgegennehmens derselben, sondern als ein aktives, vollmenschliches Er- und Verarbeiten, so daß sie einem innerlich ganz zu eigen, ja daß sie einem gleichsam zu einem übersinnlichen "Menschen" wird, den man in allen Angelegenheiten um Rat fragen kann. Dies zu zeigen, bemühte sich Rudolf Steiner in einer Vortragsreihe, die er im Sommer 1923 in Dornach hielt unter dem Titel "Geschichte und Bedingungen der anthroposophischen Bewegung". Sie wurde von ihm speziell auch im Hinblick auf den vorgesehenen Neubau des Goetheanums gehalten, zu dessen Beratung sich damals Delegierte aus verschiedenen Ländern in Dornach versammelt hatten. Nach ausführlichen Notizen, die ich mir von ihnen gemacht hatte, referierte ich diese Vorträge kurz darnach im Wiener Zweig der Gesellschaft.

   Schließlich war die Anthroposophische Gesellschaft in ihrer bisherigen Gestalt (mit ihrem Zentralvorstand in Stuttgart) auch deshalb kein geeignetes Organ der Bewegung mehr, weil in den Jahren (S61) nach dem Weltkrieg starke anthroposophische Aktivitäten in verschiedenen europäischen Ländern sich entwickelt hatten. Angesichts der politischen Nachkriegsverhältnisse konnten diese nicht mehr von Deutschland aus geleitet werden und waren deshalb genötigt, sich selbständige nationale Organisationen zu geben. Rudolf Steiner befürwortete darum die Gründung nationaler Gesellschaften. Diese sollten dann zu Weihnachten 1923 in der Begründung einer internationalen anthroposophischen Gesellschaft mit Sitz in Dornach zusammengefaßt werden.

   Als eine unter diesen Landesgesellschaften wurde zu Michaeli 1923 auch in Österreich in Anwesenheit Rudolf Steiners eine solche begründet. Es war sein letzter Besuch in Wien. Wir holten ihn, eine größere Gruppe von Freunden, am Westbahnhof ab, wo er morgens 7 Uhr aus Dornach angekommen war. Er hielt in diesen Tagen, außer zwei öffentlichen Vorträgen im großen Konzerthaussaal, für die Mitglieder der Gesellschaft eine Vortragsreihe über "Die Anthroposophie und das menschliche Gemüt", dessen Thema er in besondere Beziehung zum österreichischen Wesen setzte. In einer ganz neuen, tief ergreifenden Weise stellte er darin das Bild des mit dem Drachen kämpfenden Erzengels Michael als des Inspirators der anthroposophischen Bewegung vor die Seelen der Zuhörer hin. Auf der Gründungsversammlung der neuen Landesgesellschaft hatte ich als ihr designierter Geschäftsführer die Hauptansprache zu halten. Mit großem Pathos sprach ich dabei von der Mündigkeit, welche die Anthroposophische Gesellschaft mit ihrem 21. Altersjahr nun erreicht habe, und rief die Mitglieder zu einer entsprechend aktiven und selbständigen Arbeitsweise auf. Als ich im nächsten Frühjahr in Prag mit Rudolf Steiner wieder ein Gespräch führen durfte, bemerkte er, auf jene Versammlung zurückkommend, mit Lächeln, daß ich in ihr als großer "Rhetor" aufgetreten sei.

   Zu Weihnachten fand sodann die Gründungsversammlung der projektierten internationalen anthroposophischen Gesellschaft in Dornach statt. Zu unserer Überraschung wurde aber nicht eine internationale, sondern eine "Allgemeine" Anthroposophische Gesellschaft begründet. Sie war nicht eine bloße Dachorganisation der nationalen Gesellschaften, sondern ihnen gegenüber als (S62) eine selbständige, auf das Rein-Menschliche gegründete Gesellschaft gemeint, welche alle umfassen soll, die irgendeiner Landesgesellschaft oder aber einer Gruppe angehören, die sich auf einem fachlichen Gebiet als eine anthroposophische gebildet hat. Die Leitung dieser Gesellschaft übernahm Rudolf Steiner selbst innerhalb eines sechsköpfigen Vorstandes. Die zweite Überraschung war, daß gleichzeitig mit ihrer Gründung als ihr geistiges Zentrum die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum eröffnet wurde.

   In dieser Gliederung in Hochschule und Gesellschaft, Mittelpunkt und Umkreis kam die Polarität von Esoterik und Exoterik zum Ausdruck, die erstmals in der Geschichte durch die Anthroposophie zu einem einheitlichen Ganzen verbunden worden ist. Dementsprechend sollte die Gesellschaft fortan - im Gegensatz zu allem Sektenwesen - geistige Weltweite atmen, für jedermann offenstehen, der Anthroposophie kennenzulernen wünscht und in einer solchen Institution wie dem Goetheanum etwas Berechtigtes sieht, ohne sich zu etwas Bestimmtem bekennen zu müssen. Die Hochschule dagegen, als eine esoterische, sollte denen, die für die Anthroposophie in der Welt tätig sich einsetzen wollen, den Weg zu jener geistigen Vertiefung weisen, den zu gehen solches Tätigseinwollen voraussetzt. Dieselbe Zweigliederung trat noch einmal in Erscheinung in der Art, wie die Hochschule in sich selbst gegliedert wurde: der allgemein-anthroposophischen Sektion, die der rein esoterischen Schulung dienen und (gemäß der Dreiheit der höheren Erkenntnisarten) drei Klassen umfassen sollte, und deren Leitung Steiner selbst übernahm, wurde eine Reihe von durch andere Persönlichkeiten geleiteten Fachsektionen gegenübergestellt, von welchen die Ergebnisse der Geistesforschung für die verschiedenen Gebiete der Wissenschaft, der Kunst, des sozialen Lebens fruchtbar gemacht werden sollten. An den Abenden der neuntägigen Veranstaltung hielt Rudolf Steiner eine Vortragsreihe, in der er die geistesgeschichtlichen und schicksalsmäßigen Voraussetzungen der Anthroposophie und damit deren weltgeschichtliche Stellung und Aufgabe zur Darstellung brachte. Diese "Weihnachtstagung", sie seitdem genannt wird, war ein einmalig großes Erlebnis und (S63) Ereignis. Dadurch, daß Rudolf Steiner, der bis dahin der Anthroposophischen Gesellschaft selbst nicht als Mitglied angehört, sondern in ihrem Rahmen nur als Begründer und Lehrer der Geisteswissenschaft gewirkt hatte, nun ihre Leitung übernahm, wurde die Arbeit der Gesellschaft auf einen ganz neuen Boden gestellt.

   Sie empfing dadurch einen mächtigen Aufschwung. Zu diesem trugen wesentlich auch die "Anthroposophischen Lehrsätze" bei, die Steiner seitdem von Woche zu Woche vom Goetheanum an die Mitgliederschaft ausgehen ließ. Mit ihnen verlieh er in einer Folge von geistig aufs äußerste verdichteten Kernsätzen dem "Lehrgebäude" der Anthroposophie eine reifste, konzentrierteste Darstellung - als Anregung zu ihrer erneuten, intensivierten Verarbeitung durch die Zweite der Gesellschaft. Andererseits sind hier die Vorträge zu nennen, die er seit der Weihnachtstagung hielt, und in denen er die Zentrallehre der Geisteswissenschaft: diejenige von Reinkarnation und Karma in ebenso umfassenden wie ins konkrete einzelne gehenden Darstellungen bis ins letzte ausarbeitete.

   Ich sah ihn nach der Weihnachtstagung, wie schon erwähnt, wieder im Frühjahr in Prag, wo er der Gründung der tschechischen Landesgesellschaft bewohnte und sowohl öffentliche wie interne Vorträge wie auch für die Mitglieder der Hochschule zwei esoterische Stunden abhielt. Dann noch ein zweites Mal im Frühsommer in Breslau und Koberwitz, wo ich an dem von ihm abgehaltenen Landwirtschaftlichen Kurs teilnehmen durfte. Er war erschreckend abgemagert und machte einen äußerst hinfälligen Eindruck. Dennoch vermochte er sowohl in den Darstellungen dieses Kurses wie auch in den Karmavorträgen, die er in Breslau hielt, die Zuhörer wie immer in Welten zu versetzen und in Geheimnisse einzuweihen, gegenüber denen die Erscheinungen und Tatsachen der sinnlichen Welt, selbst der herrlichen Naturumgebung in Koberwitz als armselig erschienen. Ein letztes Mal war es mir schließlich noch vergönnt, ihn im Sommer in Dornach zu begrüßen und einige der Vorträge zu hören, die er damals über das Karma der anthroposophischen Bewegung dort hielt.

   Zu Michaeli wurden wir von der Nachricht überrascht, daß er erkrankt sei und seine Vortragstätigkeit, die er in den letzten (S64) Monaten sowohl der Zahl der Kurse wie der Vielfalt der in ihnen behandelten Themen nach aufs höchst gesteigert hatte, habe abbrechen müssen. Monate gingen hin, aber eine Wiederaufnahme derselben erfolgte nicht. Allerdings erschienen noch immer von Woche zu Woche die Fortsetzungen seiner Lebensbeschreibung, die er seit mehr als einem Jahr in der Wochenschrift "Das Goetheanum" zu veröffentlichen begonnen hatte. Ebenso die Leitsätze, jetzt sogar regelmäßig verbunden mit "Briefen an die Mitglieder", in denen der Inhalt derselben weiter ausgeführt wurde. Aber diese Briefe waren bereits wie von jenseits der Todesschwelle geschrieben, - sie erinnerten in ihrer überirdischen Durchgeistigtheit an den letzten langsamen Satz von Bruckners letzter, unvollendeter Symphonie: Trotz all dem wollte man dem Gedanken nicht Raum geben, daß der große Lehrer uns verlassen werde. Und so erreichte uns dann doch völlig überraschend am 30. März die telegraphische Nachricht von seinem Hinscheiden.

   In Dornach sahen wir ihn in der Schreinerei des Goetheanums aufgebahrt inmitten eines Meeres von Rosen. Obgleich aufs äußerste abgezehrt, wirkte sein Antlitz doch, umrahmt von seinen immer noch schwarzen Haaren, zugleich wie das eines Jünglings. Ein Hauch von Heiligkeit erfüllte den ganzen Raum, in dem er lag. Es folgte dann die Trauerfeier, an der wohl tausend Menschen teilnahmen, mit der ergreifenden Trauermusik von Jan Stuten, dem Totenkult, zelebriert von den Oberlenkern der Christengemeinschaft, und der Trauerrede von Albert Steffen. Danach die Feier im Krematorium in Basel bei herrlichem Frühlingswetter. Als wir den Raum desselben verließen, sahen wir von der Kuppel desselben einen großen Schwarm von Tauben sich erheben und in sich vergrößernden Kreisen nach oben schweben.

   Im Januar des Jahres war mein Vater unerwartet an einem Hirnschlag gestorben. Ich war nun physisch-materiell ganz auf mich selbst gestellt. Mit Rudolf Steiner hatte ich jetzt - so fühlte ich - auch meinen geistigen Vater verloren, dem ich meine geistige Existenz ebenso verdankte wie jenem meine leibliche. Der erste Hauptabschnitt meines Lebens war zum Abschluß gekommen. Ich war - wie auch die ganze anthroposophische Bewegung - fortan geistig (S65) auf die eigenen Füße gestellt. Von nun an galt es zu erweisen, was wir an Fähigkeiten erworben hatten, das geistige Erbe, das wir antraten, uns zu eigen zu machen und ihm Lebensfrüchte abzugewinnen.

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