III. Zeit und Geschichte
4. Die Schichtung der Zeitsysteme
I.
(S200) In den folgenden Kapiteln soll nun versucht werden, von verschiedenen Aspekten her zu zeigen, wie sich im Lichte des in den letzten Abschnitten entwickelten neuen Zeitbegriffs die geschichtliche Phase des Menschheitswerdens darstellt.
Die vorangehenden Darlegungen haben ergeben, daß auch im Wesen der Zeit jene Zweiheit von Prinzipien zu finden ist, die Goethe einmal (in der "Erläuterung zu dem aphoristischen Aufsatz 'Die Natur'") als "die zwei großen Triebräder des Natur" bezeichnet hat: der Prinzipien der Polarität und der Steigerung, "jene der Materie, insofern wir sie materiell, diese ihr dagegen, insofern wir sie geistig denken, angehörig". Das Prinzip der Polarität erschien in der Gegensätzlichkeit der beiden (dem ätherischen und dem astralischen "Leibe" angehörigen) Strömungen, von denen die eine von der Vergangenheit in die Zukunft, die andre in entgegengesetzter Richtung verläuft; dasjenige der Steigerung dagegen zeigte sich in dem mit dem Ich verbundenen Elemente der Gegenwart, das mit der Durchdringung jener beiden Strömungen sich zu immer höheren Entwicklungsgestalten erhebt.
Diese Tatsache ist jedoch im Grunde nicht erstaunlich; denn wir haben ja zugleich gesehen, daß die Zeit nichts andres ist als der Mensch selbst, vom Gesichtspunkte seines Werdens aus betrachtet. Der Mensch aber wiederum stellt sich - für die geisteswissenschaftliche Betrachtung, wie wir sie im Vorangehenden skizziert haben - als die "Welt im Kleinen" dar, seine Entwicklung als das Gegenstück der Weltentwicklung, - und so müssen denn auch in seinem Wesen und Werden die "beiden Triebräder", die "alle Natur" bewegen, in besondrer Deutlichkeit zur Erscheinung kommen. Nur haben eben die Betrachtungen der beiden letzten Kapitel gezeigt, daß die Art und Weise, wie diese beiden Prinzipien der Zeit: Polarität und Steigerung im Laufe des Welten- und Menschenwerdens in Erscheinung treten, eine Reihe von Metamorphosen durchläuft. Es kann sich daher sinngemäß nur darum handeln, für die verschiedenen Stufen des Welten-Menschen-Werdens die jeweiligen Qualitäten der Zeit ins Auge zu fassen, nicht aber, leere Quantitäten derselben zu statuieren.
Aber auch diese sich also metamorphosierende Zeit darf man sich nun nicht als einzige, einheitliche vorstellen, in die alles das, was sich abspielt, wie in eine (S201) alleinige, umfassende Ordnung des Nacheinander eingebettet ist. Die einzelnen Zeitabschnitte sind nicht- im Sinne der von Kant vertretenen Auffassung - bloße Teile des Ganzen der Zeit. Vielmehr gibt es - weil die Zeit in ihrer Realität bzw. Totalität sich gar nicht vom Menschen loslösen läßt - so viele verschiedene Zeiten oder Zeitsysteme, als es Erscheinungsformen des Menschen gibt.
Für die folgenden Ausführungen kommen von diesen Erscheinungsformen hauptsächlich drei in Betracht:
Fürs erste diejenige, die der einzelne menschliche Lebenslauf darstellt, wie er sich in der geschichtlichen Epoche gestaltet. Ist man in der Lage, als erwachsener und besonders als zu den höheren Altersstufen vorrückender Mensch seine seelisch-geistige Entwicklung gemäß den spezifischen Forderungen und Möglichkeiten der einzelnen Lebensalter in Fluß zu erhalten, dann wird einem - in dem Sinne, wie dies im vorangehenden Kapitel aufgewiesen wurde - die innere Struktur des Zeitorganismus zur Erfahrung, den der eigene einzelne Lebenslauf darstellt. Indem man altersgemäß zu leben sich bestrebt, gewinnt man eine immer mehr zur Erkenntnis sich steigernde Empfindung für die Metamorphosen, welche dieser Zeitorganismus in der Folge seiner Altersstufen durchschreitet. Es stellt sich ein unmittelbares Gefühl dafür ein, in welcher Phase dieser Wandlungen man in diesem oder jenem Momente seines Lebens sich befindet. Ein Gefühl aber auch dafür, in welchem inneren Bezug diese Phase zu anderen, früheren Phasen des Lebens steht. Dies gilt bereits für den Lebensabschnitt der vierziger Jahre.
Kommt man aber in die fünfziger Jahre hinein, so gesellt sich noch ein Weiteres dazu. Es bildet sich jetzt eine deutliche Empfindung dafür aus, wie dieser Zeitorganismus des eigenen Lebenslaufs überlagert wird von einem zweiten, umfassenderen: vom Zeitorganismus der Geschichte. Denn auch diese ist - wie schon früher dargestellt wurde - eine bestimmte Erscheinungsform des menschlichen Wesens. Man könnte auch sagen: eine innere Erfahrung davon entsteht, wie der eigene gegenwärtige Lebenslauf in den Zeitorganismus der Geschichte eingegliedert ist. Das bedeutet aber das Auftreten einer Empfindung dafür, an welchem "Punkte" der Geschichte wir in unsrer jeweiligen "Gegenwart" überhaupt uns befinden und in welcher inneren Beziehung dieser Punkt zu früheren geschichtlichen Zeitpunkten steht. Kurz: man lernt gewissermaßen das "Alter" empfinden, welches die Geschichte mit de jeweiligen "Heute" erreicht hat. Und diese Empfindung bildet die eigentliche Quelle eines echten, tieferen Geschichtsverständnisses.
Man kann das, worum es sich dabei handelt, auch noch anders charakterisieren, und es schließt sich dann das hier Gemeinte mit dem zu einem Ganzen zusammen, was in dem früheren Kapitel über die "Zukunftsform der geschichtlichen Erinnerung" ausgeführt wurde. Auf dem Wege der (S202) seelisch-geistiger Entwicklung, welche die hier gemeinte "Altersentwicklung" darstellt, erfolgt, wie im letzten Kapitel angedeutet, ein stufenweises Sichverselbständigen des seelisch-geistigen Wesens gegenüber der physischen Leiblichkeit. Dieses Unabhängigwerden macht gleichsam einen besonderen Ruck an der Schwelle der fünfziger Jahre. Und dieser Ruck ermöglicht, daß von diesem Zeitpunkt an in immer entschiedener Weise jenes höhere, unvergängliche Selbst im bewußten Erleben zum Durchbruche kommt, das im Lauf der Geschichte durch eine Folge von Inkarnationen hindurchschreitet. Damit aber dehnt sich das erlebende Bewußtsein immer weiter über das Ganze der Geschichte aus, und konkretisiert sich in zunehmendem Maße die Empfindung für die Entwicklungsstufe und -aufgabe, welche die eigene unsterbliche Individualität mit ihrer gegenwärtigen Verkörperung zu absolvieren hat.
Die Erweiterung und Vertiefung, die das Zeiterleben auf diesem Wege erfährt, ist damit aber noch nicht abgeschlossen. Es kommt vielmehr auf jener höchsten, letzten Stufe desselben, welche durch die Umwandlung der Kräfte gekennzeichnet ist, die uns in der Kindheit in die physische Raumeswelt haben hineinwachsen lassen, noch ein Drittes hinzu. Jetzt erst wird es zur vollen inneren Erfahrung, daß man mit seinem gegenwärtigen Leben noch in einem umfassenderen Zeitorganismus drinnensteht: in demjenigen der gesamtirdischen Menschheitsentwicklung, der sich in die drei Epochen gliedert, welche wir als die Urzeit, die Vorgeschichte und die Geschichte kennengelernt haben. Wahrnehmbar wird nämlich jetzt, inwiefern die Eigenart des gegenwärtigen Lebens dadurch bedingt ist, daß es einer bestimmten Epoche dieser menschheitlichen Gesamtentwicklung angehört. Im Zusammenhange damit aber verdeutlicht sich vor allem immer mehr der Einblick in die spiegelbildliche Bedeutung, in welcher die erste und die dritte dieser Epochen: die Urzeit und die Geschichte zueinander stehen. Worin diese Beziehung zum Ausdrucke kommt, wird im zweiten Bande dieses Werkes ausführlich dargestellt werden.
Was ist aber mit all dem eigentlich gesagt? Es ist dieses, daß der eigene Lebenslauf, hinsichtlich seiner inneren Entwicklungsmöglichkeit bis in seine höchsten Stufen hinauf vollmenschlich durchgestaltet, gewissermaßen zum Okular wird, durch welches hindurchblickend man erst in die Tiefen und in die innere zeitliche Struktur des gesamten und speziell auch des geschichtlichen Menschheitswerdens hineinzuschauen vermag. Damit ist das Wichtigste und Wesentlichste ausgesprochen, was die methodischen Grundlagen und Prinzipien des in diesem Buche zur Darstellung kommenden Beitrags zur Grundlegung einer Geschichtswissenschaft betrifft. Und es kann die Bedeutung, die wir diesem Hinweis beimessen müssen, vielleicht durch den folgenden Vergleich verdeutlicht werden:
Für die Entwicklung der modernen Naturwissenschaft, wie sie sich seit dem (S203) 16. Jahrhundert entfaltet hat, waren die Erfindungen des Telekops und des Mikroskops von unermeßlicher Bedeutung. Sie haben unsre Naturanschauung sowohl nach dem "unendlich Großen" wie nach dem "unendlich Kleinen" hin in ungeheurem Maße erweitert. Sie haben unsrer sinnlichen Anschauung zugänglich gemacht, was unsrer physischen Wahrnehmungskraft, wie die Natur sie uns schenkt, verschlossen bleibt.
Die eigenste und größte Aufgabe, die unsrer geschichtlichen Epoche im weiteren Sinne gestellt ist, bildet jedoch - wie schon im Vorwort zum Ausdruck gebracht wurde - die Ausgestaltung einer wirklichen Wissenschaft der Geschichte. Auch sie bedarf der Herstellung von Instrumenten, welche uns weiter und tiefer in ihre Phänomende hineinblicken lassen, als es uns von "Natur" aus möglich ist. Da diese Phänomene aber nicht wie diejenigen der Natur dem Raume angehören, sondern wesentlich zeitlicher Art sind, so können die hierfür notwendigen Instrumente nicht physische, sondern müssen seelische sein, welche die Tiefen und Fernen der Zeit unsrer unmittelbaren Erfahrung erschließt. Oder anders ausgedrückt: da das Objekt der Geschichte der Mensch selber ist, so können die hierfür notwendigen Instrumente nur solche sein, die wir in uns selbst erbilden und durch die wir die Sehkraft unsres seelisch-geistigen Blickes so verstärken, daß uns wahrnehmbar wird, was ihrer gewöhnlichen, natürlichen Stärke verschlossen bleibt. Diese Instrumente entstehen aber dadurch, daß wir unsern Lebenslauf in seinen seelisch-geistigen Entwicklungsmöglichkeiten voll ausschöpfend durchgestalten.
Und warum kann er dieses Instrument werden? Weil die Zeitorganismen, um des es sich beim Wesen und Werden des Menschen handelt, alle dieselbe innere Struktur haben. Denn immer haben wir es dabei ja mit dem Menschen zu tun, der die Zeitlichkeit ist. Haben wir diese Struktur einmal an demjenigen Zeitorganismus erfaßt, in welchem sie unserm erlebenden Erfahren am unmittelbarsten gegeben ist, dann enthüllt sie sich uns auch an den umfassenderen Zeitorganismen der Geschichte und der gesamtirdischen Menschheitsentwicklung.
Hier ist nun auf ein Zweifaches hinzuweisen. Fürs erste darauf, daß die Identität der inneren Struktur der verschiedenen Zeitsysteme sich darin manifestiert, daß jedes kleinere derselben in seiner Gliederung ein Abbild der größeren darstellt. Diese "Abbildung" ist allerdings nicht im Sinne der an früherer Stelle erwähnten Ontologie der archaischen Kulturen zu verstehen, welche in der Kreislauftheorie der Zeit ihren Ausdruck fand. Für diese kommt der Zeit wie der Sinneswelt überhaupt kein wahres Sein zu; sie bildet nur wie ein Schatten ein Seiendes ab, das selbst nicht zeitlich ist. Hier jedoch wird dem Sinnesdasein wie den verschiedenen Zeitsystemen, in denen es sich entfaltet, volle Wirklichkeit zuerkannt. Die letzteren (S204) erstrecken sich alle durch dieselben Sphären und unterscheiden sich voneinander nur durch ihre verschiedene Größenordnung. Was sie untereinander gleich macht, ist nur dasselbe Wesen, mit dem es bei ihnen allen zu tun hat. Damit ist das eine bezeichnet, was als Gesichtspunkt der Betrachtung den nachfolgenden geschichtlichen Skizzen zugrunde liegt.
Das andre, worauf hier hinzuweisen ist, wurde implicite auch bereits mit den Ausführungen des vorangehenden Kapitels begründet und bedarf hier nur noch der ausdrücklichen und besonderen Hervorhebung. Es ist dieses, daß überall, wo wir es nicht - wie bei der Natur - mit "unechter Zeit" bzw. mit einem bloßen Teil des Zeitwesens, sondern mit seiner vollen Wirklichkeit und Ganzheit zu tun haben, das zeitliche Werden eine Siebenheit von Phasen durchläuft, innerhalb deren die vierte der Phasen gewissermaßen die Symmetrieachse bildet. Diese Tatsache beruht einfach darauf, daß in der realen und totalen Zeit nur die Gesetzmäßigkeit der menschlichen Entwicklung zum Ausdrucke kommt. Diese Entwicklung erreicht aber mit der "Geburt" des vierten Wesensgliedes des Menschen: des Ichs, ihren Wendepunkt, in welchem sie sich umdreht und in umgekehrter Reihenfolge zur Umwandlung der Wesensglieder durch das Ich führt, deren Aufbau der Ich-Werdung vorangegangen ist. Es ist also kein mystischer Aberglaube, der dieser Behauptung zugrunde liegt; vielmehr hat umgekehrt die Siebenzahl ihre "Heiligkeit", ihre ausgezeichnete Bedeutung als die Zahl der "Vollkommenheit" auf Grund der Tatsache bekommen, daß alles zeitliche Werden durch eine Siebenheit von Stufen hindurchgehen muß, um zu seinem Abschluß, zu seiner Vollendung zu gelangen.
Nicht weniger wichtig als diese nach der Siebenzahl symmetrisch sich gestaltende Struktur der Zeit überhaupt ist eine Differenzierung, die zwischen ihren verschiedenen Phasen besteht. Auch sie ist in der Natur des Prozesses begründet, der in der Siebenheit der Zeitstufen sich eigentlich abspielt. Es ist ein Prozeß der In- und Exkarnation von der Seite des Geistigen, - der Evolution und der Involution von derjenigen des Physischen gesehen. Denn nur in diesem Doppelprozeß kommt das "Ich" zur Entwicklung und zu seiner Vollendung. Nun liegt aber innerhalb der Stufen der Inkarnation der markanteste Einschnitt zwischen der zweiten und der dritten, und ebenso innerhalb derjenigen der Exkarnation - worauf schon hingedeutet wurde - zwischen der fünften und der sechsten. Dadurch heben sich die drei mittleren Stufen: die dritte, vierte und fünfte aus dem Gesamtprozeß insofern besonders heraus, als in ihnen das sich entwickelnde Physische seiner vollen Ausbildung entgegengeht, sie erreicht und eben überschreitet, das Geistige aber voll ins Physische eintritt, in diesem sich in sich selbst erfaßt und das Physische umzuwandeln beginnt. Dagegen ist es auf den beiden ersten Stufen noch nicht oll inkarniert und kann auf den beiden letzten sich schon wieder (S205) weitgehend gegenüber dem Physisch-Leiblichen verselbständigen, - während dagegen das Physische einerseits noch nicht voll ausgebildet ist, andrerseits seinem Absterben entgegengeht. Diese Gesetzmäßigkeit tritt im einzelmenschlichen Lebenslauf deutlich darin zutage, daß zu den wichtigsten Einschnitten in seiner Entwicklung einerseits das Alter der Pubertät, andrerseits die Schwelle der fünfziger Jahre gehören. In dem ersteren Zeitpunkt wird die Leiblichkeit erst fortpflanzungsfähig und erlangt zugleich das Seelisch-Geistige erst die volle "Erdenreife", - in dem letzteren erlischt in der weiblichen Organisation die Fortpflanzungsfähigkeit und beginnt die menschliche Leibesorganisation überhaupt dem Seelisch-Geistigen die Möglichkeit einer entschiedeneren Verselbständigung ihr gegenüber zu gewähren, als dies auf früheren Altersstufen der Fall war.
Analoge Verhältnisse zeigt aber auch der umfassendste der hier betrachteten Zeitorganismen: derjenige der gesamtirdischen Menschheitsentwicklung. Und damit wird es uns hier nun möglich, den Begriff der "Urzeit" in dem von uns gemeinten Sinne, dem bisher noch eine gewisse Unbestimmtheit anhaften mußte, genauer zu präzisieren. Auf der einen Seite setzten wir ihn der Kosmogonie und Anthropogenie schlechthin gleich, auf der andern verstanden wir ihn im engeren Sinne des Abschlusses der physischen Menschwerdung, d.h. als diejenige Epoche des Erden- und Menschenwerdens, die in der Geisteswissenschaft als die lemurische bezeichnet wird. Jetzt können wir genauer sagen, daß wir mit ihm im bestimmteren Sinne zwar diese spezielle Epoche meinten, zugleich aber doch das ganze Welten- und Menschenwerden insofern in ihn einschließen durften, als das, was in früheren Stadien des letzteren noch im Überphysischen veranlagt und ausgebildet worden war, erst in ihr voll in die physische Erscheinung eingetreten ist. So ist also diese lemurische oder - im engeren Sinne des Wortes - "urzeitliche" Epoche zwar schon die dritte des Erden- und Menschenwerdens - innerhalb der geologischen Epochengliederung entspricht ihr das Mesozoikum -, der zwei andre, von der Geisteswissenschaft als "hyperboräische" und "polarische" bezeichnete, vorangehen. (Das Paläozoikum und das Azoikum bilden deren geologische Entsprechungen). Aber sie faßt gewissermaßen das Ergebnis und Erbe derselben zusammen und trägt es in die physische Materialität herunter und bildet insofern den eigentlichen Anfang des physischen Erden- und Menschenwerdens.
Ja sie bringt sogar - was hier nur angedeutet werden kann, in seinen Einzelheiten in Steiners "Geheimwissenschaft" sich dargestellt findet - im phylogenetischen Sinne die "Geschlechtsreife" der Menschheit mit sich, insofern die geschlechtliche Fortpflanzung derselben erst damals ihren Anfang nimmt. Es hängt diese Tatsache mit dem zusammen, was wir an früherer Stelle als die am Ende der "Urzeit" eingetretene "Zerspaltung des Menschlichen und das Hinuntersinken seines einen Teiles unter das ihm (S206) ursprünglich vorbestimmte "Niveau" charakterisiert haben, auf das die biblische Genesis durch die Bilder seines Falles in die "Erbsünde" und seiner Austreibung aus dem Paradiese hindeutet.
Und nochmals haben wir es mit analogen Verhältnissen zu tun in den Anfängen der Geschichte. Auch für diese ergibt sich der geisteswissenschaftlichen Betrachtung zwar, im Ganzen genommen, eine Einteilung in eine Siebenheit von Epochen. Aber wiederum hat das, was ihr charakteristisches Wesen - im Unterschied zur Vorgeschichte - ausmacht, in ihren beiden ersten Phasen noch nicht seine volle "Erdenreife" erlangt. Es beginnt erst voll in die physische Erscheinung einzutreten in der dritten, die durch das Aufblühen der ersten Hochkulturen, namentlich in Mesopotamien und Ägypten, bezeichnet ist. Daher denn auch mit Recht von der modernen Geschichtsforschung in diese immer der Beginn der geschichtlichen Phase im engeren Sinne angesetzt worden ist.
II.
Damit aber eröffnet sich uns hier zunächst noch ein neuer Aspekt jenes Überganges von der Vorgeschichte zur Geschichte, den wir in einem früheren Kapitel als "Frühgeschichte" charakterisiert haben. Und es fällt zugleich auch noch ein neues Licht auf jenes Urbild-Verhältnis, in welchem die im ersten Teil dieses Buches als "Urzeit" und "Vorgeschichte" gekennzeichneten Entwicklungsphasen zu den Epochen stehen, die üblicherweise unter diesen Begriffen verstanden werden. Diese Epochen sind ja einerseits das Paläolithikum und der Anfang des Mesolithikums, andererseits der Übergang von diesem zum Neolithikum und das letztere selbst. Diese Epochen - wenigstens das Spätpaläolithikum und die erste Hälfte des Mesolithikums und dann dessen zweite Hälfte und das Neolithikum - fallen aber, mindestens für den Orient, zusammen mit den angedeuteten zwei "einleitenden" Phasen der Geschichte. Und das oben gemeinte Verhältnis ist dadurch bedingt, daß in diesen beiden Epochen - im Elemente der Geschichte - jene beiden ersten Phasen des gesamtirdischen Menschheitswerdens (polarische und hyperboräische) sich abbilden, welche dem vollen Eintritt derselben in die physische Daseinsform und damit auch dem "Sündenfall" vorangegangen sind.
Wir haben ja diese ganze, etwa vom 9. bis ins 4. vorchristliche Jahrtausend sich erstreckende Phase der "Frühgeschichte" in einem früheren Kapitel als diejenige beschrieben, der das mythisch-imaginative Erleben das Gepräge gegeben hat. Genauer: als die Zeit des letzten Ausklingens des vorgeschichtlich-magischen, einheitlichen sinnlich-geistigen Welterlebens und des allmählichen Übergangs des mythisch-imaginativen in das denkerisch-begriffliche (S207) Welterfassen. Diesem Übergang geht auf materiell-wirtschaftlichem Gebiete parallel derjenige von der Sammler- und Jägerstufe zum Pflanzer- und Hirtentum, d.h. zu den ersten Formen von Ackerbau und Tierzucht. Diese ganze Entwicklung vollzieht sich schneller im südlichen und vorderen Asien, langsamer in Europa. Die orientalischen Völker erlangen mit anderen Worten in ihr die Führung, und was von ihnen zuerst errungen wird, breitet sich allmählich, von Süden nach Norden, auch über Europa aus. Aus dem jungsteinzeitlichen Bauerntum heraus entfalten sich dann im 4. Jahrtausend, namentlich in Mesopotamien und Ägypten, die ersten geschichtlichen Hochkulturen.
Was aber hat zur Entfaltung der ersten Hochkulturen im vorderen Orient den Anstoß gegeben? Man hat hierüber die verschiedensten Theorien aufgestellt, so vor allem auf die Aufgaben der Stromregulierungen hingewiesen, die sich in den Tälern des Nils und des Euphrats - aber auch des Indus und des Hoangho - stellten und zu den technischen Errungenschaften, Staatengründungen usw. der betreffenden Bevölkerungen Veranlassung gegeben haben sollen. Wenn auch dieser materielle Aspekt in seiner Bedeutung nicht unterschätzt werden darf, so würde die in diesen Verhältnissen gelegene "Herausforderung" doch niemals hinreichen zur Erklärung des spezifischen Lebensstils wie der charakteristischen Schöpfungen - Mysterienwesen und Bilderschrift, Totenkult und Pyramidenbau, Theokratie und Kastenwesen usw. -, welche jene ersten Hochkulturen entwickelt haben. Auch hier haben wir es vielmehr zu tun mit der eintretenden "Erdenreife" eines "Inkarnationsgeschehens", das vorbereitende Stadien durchlaufen hat, welche noch nicht im späteren Sinne "geschichtlichen" Charakter trugen, d.h. noch nicht in die geschichtliche Überlieferung, sondern nur in die mythische Erinnerung eingegangen sind und daher, abgesehen von dieser nur - soweit sie physische Überreste hinterlassen haben - von der Wissenschaft des Spatens her erforscht werden können. (Über die "rhythmisierte", mythische Erinnerung sowie über die auf diese Zeit zurückweisende "lokalisierte" der steinernen Denkmalsetzungen wurde ja weiter oben schon gesprochen). Diesen Inkarnationsprozeß macht dasjenige durch, was wir bereits im ersten Kapitel dieses Buches als das "Grundthema der Geschichte" gekennzeichnet haben: die Entwicklung des Denkens (als des Vermögens, abgezogene Allgemeinbegriffe zu bilden) und die mit ihr verbundene Ausbildung des menschlichen Selbstbewußtseins bzw. Verselbständigung der menschlichen Individualität gegenüber der früheren naturhaften Kollektivität. Diese Entwicklung wurde aber schon bedeutend früher veranlagt und hatte bereits zwei Phasen durchlaufen, als sie in den ersten geschichtlichen Hochkulturen zuerst, freilich noch immer in einer jugendlichen Frühform, in physisch faßbare Erscheinung trat. Die beiden vorbereitenden Phasen, um welche es sich hierbei handelt, werden (S208) von der Geisteswissenschaft als die "urindische" und die "urpersische" bezeichnet, weil das, was in ihnen an geschichtlicher Entwicklung veranlagt wurde, in den Religionen und mythischen Erinnerungen der späteren Inder und Perser sich wie in einem Nachklang erhalten hat. Die Veranlagung selbst aber erfolgte - nach den Ergebnissen der Geistesforschung - aus der Mysterienführung der Menschheit heraus, wie sie in einem früheren Kapitel für die vorgeschichtlich-atlantische Zeit charakterisiert worden ist. Der Repräsentant dieser - halb menschlich- halb göttlichen - Menschheitsführung war damals die Gestalt, auf welche das alte Indertum hindeutet, wenn es von Manu (dem Verfasser des nach ihm benannten "Gesetzbuches") spricht. Sie ist identisch mit derjenigen, die im Alten Testament als Noah erscheint, der in seiner "Arche" die besten der damaligen Menschen über die Sintflut hinweg zum Beginn eines neuen Menschheitsäons gerettet hat. Analog erzählt auch das indische Mahabharata von Manu, daß er, von einem Fische gewarnt, das rettende Schiff bestiegen und, als die Flut zu Ende war, den Bergesgipfel erreicht habe, wo er eine neue Menschheit begründet und sie nach göttlichen Gesetzen geleitet habe. Wiederum tritt uns dieselbe Gestalt in Utnapischtim entgegen, von dem das Gilgamesch-Epos im Zusammenhang mit seinem Flutbericht erzählt. Alle diese mythischen Erinnerungen weisen auf den eigentlichen Übergang von der atlantisch-vorgeschichtlichen zur nachatlantisch-geschichtlichen Epoche hin. Er ist bezeichnet durch jene gewaltige Katastrophe, die einerseits demjenigen Kontinent, welcher das hauptsächlichste Ausstrahlungsgebiet der vorgeschichtlichen Entwicklungsimpulse gebildet hatte, den Untergang gebracht und andrerseits in der letzten Vergletscherung eines großen Teiles von Europa und Nordamerika sich ausgewirkt hat. Langdauernde Wanderzüge aus dem allmählich versinkenden atlantischen Kontinent nach West und Ost haben die neuen Kulturbildungen ermöglicht, die später auf dem amerikanischen und eurasischen Erdteil entstanden. Dabei waren allerdings die nach Westen wandernden Völker nicht dazu befähigt und bestimmt, zu Trägern der neuen, geschichtlichen Entwicklungsimpulse zu werden. Sie haben es daher in ihren späteren Zeiten nur zu Kulturbildungen gebracht, die in bis zur Primitivität hinunterreichender Abstufung noch vorgeschichtliches oder nur halbgeschichtliches Gepräge tragen. Der Impuls und die Befähigung, eine neue Entwicklungsstufe des menschlichen Wesens zu erklimmen, wohnte nur denjenigen Teilen der Menschheit inne, die unter der Führung der Mysterien nach Osten zogen. Die spätpaläolithischen Höhlenmalereien des franko-kantabrischen Kreises, welche innerhalb dieser ostwärts sich bewegenden Teile der Erdbevölkerung während der Zeit der größten Vereisung Europas entstanden sind, zeigen deren Bewußtsein noch weitgehend auf der Stufe, die in früheren Kapiteln dieses Buches als jene der "Vorgeschichte" charakterisiert wurde. (S209) Und sie bezeugen die Reife, welche die Entwicklung dieser Bewußtseinsstufe damals erreicht hatte. Die Wanderungszüge erfolgten im übrigen auf zwei Hauptlinien: auf einer südlichen über Ostspanien, Nordafrika, Syrien, und einer nördlichen über Nordwesteuropa, Skandinavien, Rußland, Südsibirien. Und der fortgeschrittenste Teil der damaligen Menschheit wurde von Manu bis nach Innerasien in die Gegend des heutigen Tarimbeckens geführt, von wo die neue Phase des Menschheitswerdens dann ihren eigentlichen Ausgang genommen hat (siehe das Genauere hierüber bei G.Wachsmuth "Werdegang der Menschheit"). Die weniger fortgeschrittenen, noch mehr das Alte bewahrenden Teile dagegen blieben auf den verschiedenen Etappen dieser Wanderungswege zurück. Doch übernahmen auch sie nach und nach die Errungenschaften der fortgeschrittensten Völker des Ostens. Die Bewußtseinsmetamorphose, die dadurch auch bei ihnen bewirkt wurde, spiegelt sich wieder z.B. in der Änderung ihrer Bestattungsgebräuche, die sich damals vollzog (Schädelbestattung anstatt Ganzbestattung), vor allem aber in dem tiefgreifenden Stilwandel, der in der Felsbilderkunst einerseits Ostspaniens und Nordafrikas, andrerseits Skandinaviens und Rußlands im Laufe der mittleren und jüngeren Steinzeit gegenüber der eiszeitlichen Höhlenmalerei Westeuropas eintrat. Wir führen hierüber einige Worte aus dem Buche "Die Felsbilder Europas" (1952) von H.Kühn an, die sich namentlich auf die spätesten Schöpfungen dieser Bild-Kunst beziehen: "Die Kunst Alteuropas ist verblieben bei dem Symbol, das sich nicht zur Schrift entfalten konnte. Den größten Raum in dieser Kunst nimmt das stilisierte Zeichen für den Menschen ein. In der eiszeitlichen Kunst war die Darstellung des Menschen selten; der Mensch war noch nicht zum reflektierten Bewußtsein seiner selbst gelangt. In der Kunst der Nacheiszeit tritt er selbst in den Vordergrund als lebendige, handelnde, wirkende Erscheinung. Jetzt aber, in der stilisierten Kunst, erfaßt der Mensch sich selbst zum erstenmal als Geist, als innerlich wirkende Kraft, als Seele. Gleichzeitig erwacht im Blick auf die Welt der Sinn für das Allgemeine. Wie in der Sprache und im Denken, so steht auch in der Kunst das Konkrete am Anfang. Zuerst wird das Tier als ein bestimmtes Tier, als Bison, Rentier oder Pferd gesehen, dann erst das Tier an sich, der Begriff: Tier, das Symbol für das Tier. Das Symbol hat nicht mehr den Reichtum der individuellen Erscheinung; das Symbol bezeichnet das Allgemeine, darin liegt seine Starrheit und Abstraktheit. Als Verkörperung des Allgemeinen wird das Symbol heilig und unantastbar, es kann nicht mehr verändert werden... Gegenüber dem Analogiezauber der Eiszeit und Nacheiszeit stellt das symbolhafte Denken einen bedeutenden geistigen Fortschritt dar... Das Denken wendet sich den bleibenden Elementen zu, die das Dasein umgeben und bestimmen" (S98f.).
Man sieht hieraus, daß auch in Europa die charakteristischen Motive der geschichtlichen Entwicklung schon in einer Zeit sich geltend machen, bevor (S210) seine Völker in das volle Licht der Geschichte eingetreten sind. Die eigentliche Impulsierung derselben war aber doch bereits lange vorher von Innerasien ausgegangen. Sie wurde durch "Mysterienkolonisationen" vermittelt, die von dort aus innerhalb der verschiedensten Bevölkerungen erfolgten. Unter diesen Bevölkerungen waren die mannigfaltigsten Stufen der atlantisch-vorgeschichtlichen, ja sogar noch der urzeitlich-lemurischen Entwicklung vertreten. Denn es handelte sich dabei nicht nur um diejenigen, die an den erwähnten Wanderungszügen teilgenommen, sondern auch um solche, die schon in früheren Zeiten sich über Afrika, Süd- und Nordasien verbreitet hatten. Aus der Verborgenheit der Mysterienstätten heraus wurden diesen Bevölkerungen, je nach den in ihnen vorhandenen Möglichkeiten, die Keime für ihre spätere geschichtliche Entwicklung eingepflanzt. Und es dauerte eine lange Zeit, bis durch die "Erziehung", die ihnen von diesen Stätten aus zuteil wurde, diese Keime zur Reife gediehen. Daher kommt es, daß, was sich von dieser - etwa der mittleren und zum Teil auch noch der jüngeren Steinzeit entsprechenden - Epoche durch äußerlich faßbare Hinterlassenschaften feststellen läßt, überwiegend noch das Gepräge des mythisch-imaginativen Erlebens, ja selbst noch den, allerdings schon in starke Dekadenz versinkenden Charakter der weiter zurückliegenden, noch ganz im Zeichen des "Magismus" stehenden vorgeschichtlich-atlantischen Stufe aufweist.
Von zweifacher Art aber waren die Impulsierungen jener Erziehung, die nacheinander von der Mysterienführung ausgingen. Obwohl in ihrer Richtung einander in gewisser Weise entgegengesetzt, hatten sie doch dies gemeinsam, daß sie beide das Verhältnis des Menschen zum irdischen Dasein noch ganz vom Blickpunkte der geistig-göttlichen Welt her zur Darstellung brachten. Die erstere und ältere ist diejenige, die ihre reifste Ausprägung in der späteren indischen Religion und Philosophie erlangt hat. Sie lenkte den Seelenblick vor allem zurück auf den göttlich-geistigen Ursprung des Welten- und Menschendaseins. Die Sinneswelt mit der Vielheit ihrer Erscheinungen charakterisierte sie als bloßen Schein, als "Maja", gegenüber welcher die einheitliche göttlich-geistige Welt das wahre Sein darstellt. Als Schein bezeichnete sie aber nicht nur die Vielheit der sinnlichen Erscheinungen, sondern auch noch die dieser entsprechende Vielheit der göttlichen und dämonischen Wesen, welche für das mythisch-imaginative Erleben der damaligen Menschen die Natur beseelten. Von all dem sollte der Mensch in seinem Bewußtsein sich zur Erfassung der Einheit des höchsten Göttlichen erheben. Und er sollte auch sich selbst in seinem innersten Wesen als eins mit diesem Göttlichen erfühlen. Mit diesem "pantheistischen Monismus" - wie man diese Lehre im Hinblick auf die Form genannt hat, die sie später im klassischen Brahmanismus angenommen hat - sollte der Fortschritt vom mythischen zum denkerischen Erleben impulsiert werden. Es ist dieser "Monotheismus" (S211) nicht zu verwechseln mit jenem "Urmonotheismus", welchen die historisch orientierte Ethnologie (W.Schmidt) neuerdings wieder als die ursprünglichste, der vorgeschichtlichen Menschheit angehörende Gestalt der Gottesverehrung aufgewiesen hat, - obwohl, im Sinn einer Metamorphose, eine Beziehung zwischen beiden besteht. Lange vor W.Schmidt hat R.Steiner aus seiner geisteswissenschaftlichen Forschung heraus dargestellt, wie für jenes einheitliche sinnlich-geistige Erleben der vorgeschichtlich-atlantischen Menschheit, dem die "einheitliche" Ursprache ihre Entstehung verdankte, das in den Naturerscheinungen gestaltend wirkende Geistige (der Inbegriff der ("universalia in rebus") sich zuletzt in der Gestalt eines einheitlichen "Großen Geistes" zusammenfaßte. In dem Maße, als mit dem Niedergang der atlantischen Kultur bzw. ihrem Übergang zur nachatlantischen der Schwerpunkt des geistigen Erlebens von dem einstigen "Worthaft-Inspirativen" auf das "Bildhaft-Imaginative" sich verlagerte, trat an die Stelle des ursprünglichen Monotheismus der Polytheismus der frühgeschichtlichen mythischen Volksreligionen. Diesem gegenüber bedeutet das denkerische Erfassen des Göttlichen schlechthin in einem einheitlichen Gottesbegriff zwar das Aufsteigen zu einer höheren Stufe, auf welcher das Ursprünglichste in neuer Form wiedergewonnen wird, - in einer Form freilich, in der nun begrifflich verabstrahiert ist, was einstmals Inhalt einer sinnlich-geistigen Offenbarung gewesen war. Im Sinne dieses neuen Entwicklungsimpulses hat sich in Indien für immer als das tiefste und bezeichnendste Streben die Sehnsucht erhalten, in der Erhebung über alle Welten und ihre unaufhörlichen Wandlungen hinaus die Einswerdung mit dem überkosmischen Absoluten zu erlangen. Charakteristisch ist dennoch aber auch für das spätere Indertum immer geblieben das Neben- und Übereinander eines vielgestaltigen religiös-mythologischen Polytheismus mit Überresten eines primitiven Magismus und eines spiritualistisch-philosophischen Monismus, - wie denn überhaupt in Indien auch in bezug auf die allgemein-kulturellen Verhältnisse, die Wirtschaftsformen usw. in den mannigfaltigsten Völkerelementen, die diesen Subkontinenten noch bewohnen, die allerverschiedensten vor- und frühgeschichtlichen Entwicklungsstufen sich erhalten haben. Vielleicht dürfen in den Wedda-Stämmen, die heute noch auf der dem Mesolithikum entsprechenden Stufe des Jäger- und Sammlertums stehen, letzte Reste jener Bevölkerung gesehen werden, innerhalb welcher einstmals durch die erwähnten "Mysterienkolonisationen" die "urindische" Kultur begründet worden ist. Die primitiv-neolithischen Pflanzerkulturen der Munda-Völker sodann haben eine Entwicklungsstufe bewahrt, welche der sogleich zu schildernden zweiten "urpersischen" Entwicklungsphase entspricht. Die geschichtliche Stellung der den größten Teil Südindiens noch bewohnenden Drawida-Völker, welche früher als eine vorarische Bevölkerung auch Nordindiens betrachtet wurden, (S212) die die eindringenden Eroberer nach dem Süden verdrängten, ist seit kurzem problematisch geworden, da neueste Grabungen die von drawidischen Völkern getragene eisenzeitliche Megalithkultur Südindiens als eine solche erwiesen haben, deren Hochblüte erst dem 1. vorchristlichen Jahrtausend angehört hat. In der im 3. vorchristlichen Jahrtausend sich entfaltenden Induskultur (Mohenjodaro, Harappa) endlich erblühte auf indischem Boden die erste städtische Hochkultur, die zu derjenigen des damaligen Mesopotamiens eine Parallelerscheinung bildet und mit dieser in kultureller und wirtschaftlicher Verbindung stand. Aber sie ist völliger Zerstörung anheimgefallen, und die spärlichen Reste ihrer Bilderschrift harren noch der Entzifferung. Einzig durch die Indoarier, die im 2. Jahrtausend erobernd eindrangen und ihn von seinen früheren Trägern übernahmen, ist der Entwicklungsimpuls der "urindischen" Kultur bis in vollgeschichtliche Zeiten herein weitergetragen, bewahrt und zugleich bis zu seiner vollständigen, höchsten Ausgestaltung im klassischen Brahmanismus fortgebildet worden.
Von entgegengesetzter Art war die Impulsierung, welche derjenigen Bevölkerung zuteil wurde, welche im 6.,5. vorchristlichen Jahrtausend das iranische Hochland bewohnte. War der Blick der "Urinder" nach der Weltvergangenheit zurückgewendet, so wurde derjenige dieses Volkes, dessen geistiger Erbe die späteren Perser wurden, nach vorwärts auf die Weltenzukunft hingelenkt. Und wie jener von der Sinneswelt hinweg auf die Geisteswelt gerichtet war, so dieser auf die Sinneswelt hin, aber vom Gesichtspunkte der geistigen Welt her, in welcher es die göttliche Macht zu suchen und zu verehren gelehrt wurde, die seinem Leben die Richtung wies. Es hatte gewissermaßen als Sauerteig eine Bevölkerung turanischer Rasse zu durchsetzen, welche in besonders starker, aber auch besonders entarteter Weise einer aus der atlantischen Vorzeit überkommenen niederen Magie ergeben war. Diese Magie aus dem Dunkeln ins Helle zu wenden, sie anstatt für niedere egoistische Zwecke zu gebrauchen, in den Dienst höherer, überpersönlicher Ziele zu stellen, war die Aufgabe, die ihm übertragen wurde. So war es zur Aktion aufgerufen, wie die Urinder einstmals der Kontemplation obgelegen hatten. Aber diese Aktion war ein ständiger - auch in jahrhundertelangen äußeren Kriegen zum Ausdruck kommender - Kampf mit den niederziehenden Mächten, welche die Seelen in Egoismus, aber auch - durch die Dekadenz der alten Bewußtseinsformen - in Täuschung, Irrtum und Verwirrung verstrickten. Und sie war ein Kampf für das Licht und die Wahrheit, die in dem nun erwachenden Denken für die Menschheit aufzugehen im Begriffe war. So fühlte sich jenes Persertum in einen Weltengegensatz und Weltenkampf zwischen Licht und Finsternis hineingestellt, als deren Repräsentanten es der große Führer seines Mysterienwesens, der in der Gestalt des Zarathustra in der mythischen Erinnerung fortgelebt hat, den Sonnengeist Ormuzd und den (S213) finsteren Erdengeist Ahriman kennen lehrte. Hierbei ist es freilich für jenes älteste Persertum kennzeichnend, daß ihm das Böse noch als eine objektive, an den Menschen von außen herankommende Weltenmacht sich darstellte, wenn auch in andrer Art als dem Indertum. War diesem die Sinneswelt schlechthin als das Böse und Nichtige erschienen, von dem sich durch Erhebung zum Geistigen zu befreien es als die höchste Tugend betrachtete, so stellte sich dem noch durchgeistigten Erleben der Sinneswelt des Persers alles Helle, Lichte in derselben als das Gute, alles Finstere, Dunkle aber als das Böse dar. Daß aber weder der eine noch der andre schon im Menschen selbst das Böse zu finden vermochte, ist ein Zeichen dafür, daß in diesen ersten Epochen der Geschichte sich in gewisser Weise jene frühesten Phasen des Welten- und Menschenwerdens abbildeten, in denen der Mensch noch nicht ganz ins Physische heruntergestiegen und dem "Sündenfall" erlegen war.
Ihn, wenn auch als den Kampfgenossen der lichten Götter, auf den Erdenplan herunterzuführen, darauf zielte allerdings aber die ganz der Zukunft zugewandte geistige Impulsierung hin, die dem "Urpersertum" zuteil wurde. Und hierin liegt die Ursache dafür, daß einen ihrer wesentlichsten Bestandteile die Begründung von Ackerbau und Viehzucht bildete, - wie dies denn auch von der mythischen Erinnerung an jene Vorzeit festgehalten worden ist, die zur Zeit des Kyros in der Niederschrift des Avesta ihren literarischen Niederschlag gefunden hat. Nach der Darstellung desselben hat der König Yima auf das Geheiß Ahura Mazdaos, der ihm zwei Geräte: einen goldenen Pfeil, um damit die Erde zu ritzen, und eine goldgeschmückte Peitsche übergab, diese neue Lebensform inauguriert (Avesta, Videvdat 2). Der neuesten archäologischen Forschung hat sich ergeben, daß der iranisch-irakische Raum in der Tat als das Zentrum betrachtet werden muß, von dem die Züchtung des Schafes, des Rindes, der Ziege im 5. vorchristlichen Jahrtausend ihren Ausgang genommen hat. Im selben Gebiete sind auch die ältesten, aus eben dieser Zeit stammenden bäuerlichen Siedlungen aufgefunden worden (Siehe Karl J.Narr: Hirten, Pflanzer, Bauern: Produktionsstufe, Historia Mundi Bd.II,S66ff).
Die Frage ist allerdings heute noch nicht völlig geklärt, ob Viehzucht und Ackerbau selbständig und in voneinander getrennten Gebieten entstanden und erst später zu einer bäuerlichen Wirtschaft vereinigt worden sind, oder ob die gemischte bäuerliche Ökonomie am Anfang gestanden habe und Hirten- und Pflanzertum als einseitige Spezialisierungen aus ihr sich entwickelt haben. Tatsache ist, daß zwar älteste Funde bereits auf eine gemischte Ökonomie hindeuten, andrerseits aber in frühgeschichtlicher Zeit doch die Hirtenkultur vorwiegend in Nord- und Mittelasien (und im östlichen und nördlichen Afrika), die Pflanzerkulturen dagegen im südlichen Asien (einschließlich der Inselwelt) und in West- und Zentralafrika anzutreffen sind. Selbstverständlich sind für die Herausbildung aller dieser verschiedengearteten Verhältnisse geographisch-klimatische Verhältnisse - als bloße (S214) Weidegründe verwendbare Steppengebiete einerseits, fruchtbare Stromtäler andrerseits - mitbestimmend gewesen. Wie immer aber auch die Entstehung von Hirtentum und Pflanzertum zustandegekommen sein mag, - daß mit ihr eine Differenzierung einer ursprünglich einheitlicher gearteten Lebensform und Kulturgestaltung Hand in Hand ging, darin kommt auch eine Polarität zum Ausdruck, die von der damaligen Mysterienführung der Menschheit aus als eine für den weiteren Fortgang von deren geistiger Entwicklung notwendige herausgebildet wurde. Diese Gegensätzlichkeit wird im zweiten Bande unsres Werkes ausführlich zur Sprache kommen. Auch die ethnologisch-archäologische Forschung hat ja in ihrer Art die Gegensätze in Religion, Weltanschauung und Lebensgefühl aufgewiesen, die dieser Differenzierung entsprechen. Im Zusammenhang unsrer gegenwärtigen Betrachtungen war zunächst lediglich auf die Tatsache hinzuweisen, daß der für alles weitere geschichtliche Werden entscheidende Übergang zu Ackerbau und Viehzucht in der neolithischen, der Entfaltung der ersten Hochkulturen vorausgehenden Zeit d.h. im 5. und 4. vorchristlichen Jahrtausend im iranisch-irakischen Raum gemacht worden ist und derjenigen geistigen Impulsierung entstammt, die wir als die urpersische charakterisiert haben. Durch ihn wurden die Grundlagen geschaffen, auf denen dann die ersten Hochkulturen in Asien und Nordafrika erwachsen konnten.
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