Erstauflage Weimar von 1897:
S27 Ich habe die Gedankenentwickelung von Platos bis zu Kants Zeit geschildert, um zeigen zu können, welche Eindrücke Goethe empfangen mußte, wenn er sich an die Philosophen wandte, um sein so starkes Erkenntnisbedürfnis zu befriedigen. Auf die unzähligen Fragen, zu denen ihn seine Natur drängte, fand er in den Philosophien keine Antworten. Ja, es zeigte sich, so oft er sich in die Weltanschauung eines Philosophen vertiefte, ein Gegensatz zwischen der Richtung, die seine Fragen einschlugen und der Gedankenwelt, bei der er sich Rat holen wollte. Der Grund liegt darin, daß die platonische Trennung von Idee und Erfahrung seiner Natur zuwider war. Wenn er die Natur beobachtete, so brachte sie ihm die Ideen entgegen. Er konnte sie deshalb nur ideenerfüllt denken. Eine Ideenwelt, welche die Dinge der Natur nicht durchdringt, ihr Entstehen und Vergehen, ihr Werden und Wachsen nicht hervorbringt, ist ihm ein kraftloses Gedankengespinst. Das logische Fortspinnen von Gedankenreihen, ohne Versenkung in das wirkliche Leben und Schaffen der Natur erscheint ihm unfruchtbar. Denn er fühlt sich mit der Natur innig verwachsen. Er betrachtet sich al ein lebendiges Glied der Natur. Was in seinem Geiste entsteht, das hat, nach seiner Ansicht die Natur in ihm entstehen lassen. Der Mensch soll sich nicht in eine Ecke stellen und glauben, daß er da aus sich heraus ein Gedankengewebe spinnen könne, das über S28 das Wesen der Dinge aufklärt. Er soll den Strom des Weltgeschehens beständig durch sich durchfließen lassen. Dann wird er fühlen, daß die Ideenwelt nichts anderes ist, als die schaffende und thätige Gewalt der Natur. Er wird nicht über den Dingen stehen wollen, um über sie nachzudenken, sondern er wird sich in ihre Tiefen eingraben und aus ihnen herausholen, was in ihnen lebt und wirkt.
Zu solcher Denkweise führte Goethe seine Künstlernatur. Mit derselben Notwendigkeit, mit der eine Blume blüht, fühlte er seine dichterischen Erzeugnisse aus seiner Persönlichkeit herauswachsen. Die Art, wie der Geist in ihm das Kunstwerk hervorbrachte, schien ihm nicht verschieden von der zu sein, wie die Natur ihre Geschöpfe erzeugt. Und wie im Kunstwerke das geistige Element von der geistlosen Materie nicht zu trennen ist, so war es ihm auch unmöglich bei einem Dinge der Natur die Wahrnehmung ohne die Idee vorzustellen. Fremd blickte ihn daher eine Anschauung an, die in der Wahrnehmung nur etwas Unklares, Verworrenes erblickte und die Ideenwelt abgesondert, gereinigt von aller Erfahrung betrachten wollte. Er fühlte in jeder Weltanschauung, in der platonische Gedankenelemente lebten, etwas naturwidriges. Deshalb konnte er bei den Philosophen nicht finden, was er bei ihnen suchte. Er suchte die Ideen, die in den Dingen leben, und die alle Einzelheiten der Erfahrung als hervorwachsend aus einem lebendigen Ganzen erscheinen lassen, und die Philosophen lieferten ihm Gedankenhülsen, die sie nach logischen Grundsätzen zu Systemen verbunden hatten. Immer wieder fand er sich auf sich selbst zurückgewiesen, wenn er S29 bei Andern Aufklärung suchte über die Rätsel, die ihm die Natur aufgab.
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Es gehört zu den Dingen, an denen Goethe vor seiner italienischen Reise gelitten hat, daß sein Erkenntnis-bedürfnis keine Befriedigung finden konnte. In Italien konnte er sich eine Ansicht bilden über die Triebkräfte, aus denen die Kunstwerke hervorgehen. Er erkannte, daß in den vollendeten Kunstwerken das enthalten ist, was die Menschen als Göttliches, als Ewiges verehren. Nach dem Anblicke von künstlerischen Schöpfungen, die ihn besonders interessieren, schreibt er die Worte nieder: "Die hohen Kunstwerke sind zugleich als die höchsten Naturwerke von Menschen nach wahren und natürlichen Gesetzen hervorgebracht worden. Alles Willkürliche, Eingebildete fällt zusammen; da ist Notwendigkeit, da ist Gott." Die Kunst der Griechen entlockt ihm den Ausspruch: "Ich habe die Vermutung, daß die Griechen nach den Gesetzen verfuhren, nach welchen die Natur selbst verfährt und denen ich auf der Spur bin." Was Plato in der Ideenwelt zu finden glaubte, was die Philosophien Goethe nie nahe bringen konnten, das blickt ihm aus den Kunstwerken Italiens entgegen. In der Kunst offenbart sich für Goethe zuerst das in vollkommener Gestalt, was er als die Grundlage der Erkenntnis ansehen kann. Er erblickt in der künstlerischen Produktion eine Art und höhere Stufe des Naturwirkens; künstlerisches Schaffen ist ihm gesteigertes Naturschaffen. Er hat das in seiner S30 Charakteristik Winkelmanns später ausgesprochen. "Indem der Mensch auf den Gipfel der Natur gestellt ist, so sieht er sich wieder als eine ganze Natur an, die in sich abermals einen Gipfel hervorzubringen hat. Dazu steigert er sich, indem er sich mit allen Vollkommen-heiten und Tugenden durchdringt, Wahl, Ordnung, Harmonie und Bedeutung aufruft und sich endlich zur Produktion des Kunstwerkes erhebt." Nicht auf dem Wege logischer Schlußfolgerung, sondern durch Betrachtung des Wesens der Kunst gelangt Goethe zu seiner Weltanschauung. Und was er in der Kunst gefunden hat, das sucht er auch in der Natur.
Die Thätigkeit, durch die sich Goethe in den Besitz einer Naturerkenntnis setzt, ist nicht wesentlich von der künstlerischen verschieden. Beide gehen in einander über und greifen über einander. Der Künstler muß, nach Goethes Ansicht, größer und entschiedener werden, wenn er zu seinem "Talente noch ein unterrichteter Botaniker ist, wenn er, von der Wurzel an, den Einfluß der verschiedenen Teile auf das Gedeihen und den Wachstum der Pflanze, ihre Bestimmung und wechselseitige Wirkung erkennt, wenn er die successive Entwicklung der Blumen, Blätter, Befruchtung, Frucht und des neuen Keimes einsieht und überdenkt. Er wird alsdann nicht bloß durch die Wahl aus den Erscheinungen seinen Geschmack zeigen, sondern er wird uns auch durch eine richtige Darstellung der Eigenschaften zugleich in Verwunderung setzen und belehren." Das Kunstwerk ist demnach um so vollkommener, je mehr in ihm dieselbe Gesetzmäßigkeit zum Ausdruck kommt, die in dem Naturwerke S31 enthalten ist, dem es entspricht. Es giebt nur ein einheitliches Reich der Wahrheit, und dieses umfaßt Kunst und Natur. Daher kann auch die Fähigkeit des künstlerischen Schaffens von der des Naturerkennens nicht wesentlich verschieden sein. Vom Stil des Künstlers sagt Goethe, daß er "auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis ruhe, auf dem Wesen der Dinge, insofern uns erlaubt ist, es in sichtbaren und greifbaren Gestalten zu erkennen". Die aus platonischen Vorstellungen hervorgegangene Weltbetrachtung zieht eine scharfe Grenzlinie zwischen Wissenschaft und Kunst. Die künstlerische Thätigkeit läßt sie auf der Phantasie, auf dem Gefühle beruhen; die wissenschaftlichen Ergebnisse sollen das Resultat einer Phantasie-freien Begriffsentwicklung sein. Goethe stellt sich die Sache anders vor. Für ihn ergiebt sich, wenn er das Auge auf die Natur richtet, eine Summe von Ideen; aber er findet, daß in dem einzelnen Erfahrungsgegenstande der ideelle Bestandteil nicht abgeschlossen ist; die Idee weist über das Einzelne hinaus auf verwandte Gegenstände, in denen sie auf ähnliche Weise zur Erscheinung kommt. Der philosophierende Beobachter hält diesen ideellen Bestandteil fest und bringt ihn in seinen Gedankenwerken unmittelbar zum Ausdrucke. Auch auf den Künstler wirkt dieses Ideelle. Aber es treibt ihn, ein Werk zu gestalten, in dem die Idee nicht bloß wie in einem Naturwerke wirkt, sondern zur gegenwärtigen Erscheinungwird. Was in dem Naturwerke bloss ideell ist und sich dem geistige Auge des Beobachters enthüllt, das wird in dem Kunstwerke real, wird wahrnehmbare Wirklichkeit. Der Künstler verwirklicht S32 die Ideen der Natur. Er braucht sich aber diese nicht in Form der Ideen zum Bewußtsein zu bringen. Wenn er ein Ding oder ein Ereignis betrachtet. so gestaltet sich in seinem Geiste unmittelbar ein anderes, das in realer Erscheinung enthält was jene nur als Idee. Der Künstler liefert Bilder der Naturwerke, welche deren Ideengehalt in einen Wahrnehmungsgehalt umsetzen. Der Philosoph zeigt, wie sich die Natur der denkenden Betrachtung darstellt; der Künstler zeigt, wie die Natur aussehen würde, wenn sie ihre wirkenden Kräfte nicht bloß dem Denken, sondern auch der Wahrnehmung offen entgegenbrächte. Es ist eine und dieselbe Wahrheit, die der Philosoph in Form des Gedankens; der Künstler in Form des Bildes darstellt. Beide unterscheiden sich nur durch ihre Ausdrucksmittel.
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Die Einsicht in das wahre Verhältnis von Idee und Erfahrung, die sich Goethe in Italien angeeignet hat, ist nur die Frucht aus dem Samen, der in seiner Naturanlage verborgen war. Die italienische Reise brachte ihm jene Sonnenwärme, die geeignet war, den Samen zur Reife zu bringen. In dem Aufsatz "die Natur", der 1782 im Tiefurter Journal erschienen ist, und der Goethe zum Urheber hat (vgl. meinen Nachweis von Goethes Urheberschaft im VII. Bande der Schriften der Goethe-Gesellschaft), finden sich schon die Keime der späteren Goetheschen Weltanschauung. Was hier dunkle Empfindung ist, wird später klarer deutlicher Gedanke. "Natur! wir sind von ihr S33 umgeben und umschlungen - unvermögend, aus ihr herauszutreten, und unvermögend, tiefer in sie hineinzukommen. Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt sich mit uns fort, bis wir ermüdet sind und ihrem Arm entfallen... Gedacht hat sie (die Natur) und sinnt beständig; aber nicht als ein Mensch, sondern als Natur... Sie hat keine Sprache noch Rede, aber sie schafft Zungen und Herzen, durch die sie fühlt und spricht... Ich sprach nicht von ihr. Nein, was wahr ist und falsch ist, alles hat sie gesprochen. Alles ist ihre Schuld, alles ist ihr Verdienst!-" Als Goethe diese Sätze niederschrieb, war ihm noch nicht klar, wie die Natur durch den Menschen ihre ideelle Wesenheit ausspricht; daß es aber die Stimme der Natur ist, die im Geiste ertönt, das fühlte er.
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In Italien fand Goethe die geistige Atmosphäre, in der sich seine Erkenntnisorgane ausbilden konnten, wie sie es ihren Anlagen gemäß mußten, wenn er zur vollen Befriedigung kommen sollte. In Rom hat er "über Kunst und ihre theoretischen Forderungen mit Moriz viel verhandelt"; auf der Reise hat sich in ihm bei Beobachtung der Pflanzenmetamorphose eine naturgemäße Methode ausgebildet, die sich später für die Erkenntnis der ganzen organischen Natur fruchtbar erwiesen hat. "Denn als die Vegetation mir Schritt für Schritt ihr Verfahren vorbildete, konnte ich nicht irren, sondern mußte, indem ich sie gewähren ließ, die Wege und Mittel anerkennen, wie sie den S34 eingehülltesten Zustand zur Vollendung nach und nach gewähren ließ." Wenige Jahre nach seiner Rückkehr aus Italien gelang es ihm, auch für die Betrachtung der unorganischen Natur ein aus seinen geistigen Bedürfnissen geborenes Verfahren zu finden. "Bei physischen Untersuchungen drängte sich mir die Überzeugung auf, daß bei aller Betrachtung der Gegenstände die höchste Pflicht sei, jede Bedingung, unter welcher ein Phänomen erscheint, genau aufzusuchen und nach möglichster Vollkommen-heit der Phänomene zu tracht; weil sie doch zuletzt übereinanderzugreifen genötigt sind, und vor dem Anschauen des Forschers auch eine Art Organisation bilden, ihr inneres Gesamtleben manifestieren müssen."
Goethe fand nirgends Aufklärung. Er mußte sich selbst aufklären. Er suchte den Grund dafür und glaubte ihn darin zu finden, daß er für Philosophie im eigentlichen Sinne kein Organ hätte. Er ist aber darin zu suchen, daß die platonische Denkweise, die alle ihm zugänglichen Philosophien beherrschte, seiner gesunden Naturanlage widersprach. In seine Jugend hatte er sich wiederholt an Spinoza gewandt. Er gesteht sogar, daß dieser Philosoph auf ihn immer eine "friedliche Wirkung" hervorgebracht habe. Diese beruht darauf, daß Spinoza das Weltall als eine große Einheit ansieht, und alles Einzelne mit Notwendigkeit aus dem Ganzen hervorgehend sich denkt. Wenn sich Goethe aber auf den Inhalt der Spinozistischen Philosophie einließ, so fühlte er doch, daß dieser ihm fremd blieb. "Denke man aber nicht, daß ich seine Schriften hätte unterschreiben und mich S35 dazu buchstäblich bekennen mögen. Denn daß niemand den andern versteht, daß keiner bei denselben Worten dasselbe, was der andere denkt, daß ein Gespräch, eine Lektüre bei verschiedenen Personen verschiedene Gedankenfolgen aufregt, hatte ich schon allzudeutlich eingesehen, und man wird dem Verfasser von Werther und Faust wohl zutrauen, daß er von solchen Mißverständnissen tief durchdrungen, nicht selbst den Dünkel gehegt, einen Mann vollkommen zu verstehen, der als Schüler von Descartes, durch mathematische und rabbinische Kultur sich zu dem Gipfel des Denkens hervorgehoben, der bis auf den heutigen Tag noch das Ziel aller spekulativen Bemühungen zu sein scheint." Nicht der Umstand, daß Spinoza durch Descartes geschult worden ist, auch nicht der, daß er durch mathematische und rabbinische Kultur sich zu dem Gipfel des Denkens erhoben hat, machte ihn für Goethe unverständlich, sondern seine wirklichkeitsfremde, rein logische Art, die Erkenntnisse zu behandeln. Goethe konnte sich dem reinen erfahrungsfreien Denken nicht hingeben, weil er es nicht zu trennen vermochte von der Gesamtheit des Wirklichen. Er wollte nicht einen Gedanken bloß logisch an den andern angliedern. Vielmehr erschien ihm eine solche Gedankenthätigkeit von der wahren Wirklichkeit abzulenken. Er mußte den Geist in die Erfahrung versenken, um zu den Ideen zu kommen. Die Wechsel-wirkung von Idee und Wahrnehmung war ihm eine geistiges Atemholen. "Durch die Pendelschläge wird die Zeit, durch die Wechselbewegung von Idee und Erfahrung die sittliche und wissenschaftliche Welt regiert." Im Sinne dieses Satzes die Welt und ihre S36 Erscheinungen zu betrachten, schien Goethe naturgemäß. Denn für ihn gab es keinen Zweifel darüber, daß die Natur dasselbe Verfahren beobachtet: daß sie "eine Entwicklung aus einem lebendigen geheimnisvollen Ganzen" zu den mannigfaltigen besonderen Erschein-ungen hin ist, die den Raum und die Zeit erfüllen. Das geheimnisvolle Ganze ist die Welt der Idee. "Die Idee ist ewig und einzig; daß wir auch den Plural brauchen, ist nicht wohlgethan. Alles, was wir gewahr werden und wovon wir reden können, sind nur Manifestationen der Idee; Begriffe sprechen wir aus, und insofern ist die Idee selbst ein Begriff." Das Schaffen der Natur geht aus dem Ganzen, das ideeller Art ist, ins Einzelne, das als Reelles der Wahrnehmung gegeben ist. Deshalb soll der Beobachter: "das Ideelle im Reellen anerkennen und sein jeweiliges Mißbehagen mit dem Endlichen durch Erhebung ins Unendliche beschwichtigen.". Goethe ist überzeugt davon, daß "die Natur nach Ideen verfahre, ingleichen daß der Mensch in allem, was er beginnt, eine Idee verfolge". Wenn es dem Menschen wirklich gelingt, sich zu der Idee zu erheben, und von der Idee aus die Einzelheiten der Wahrnehmung zu begreifen, so vollbringt er dasselbe, was die Natur vollbringt, indem sie ihre Geschöpfe aus dem geheimnisvollen Ganzen hervorgehen läßt. Solange der Mensch das Wirken und Schaffen der Idee nicht fühlt, bleibt sein Denken von der lebendigen Natur abgesondert. Er muß das Denken als eine bloß subjektive Thätigkeit ansehen, die ein abstraktes Bild von der Natur entwerfen kann. Sobald er aber fühlt, wie die Idee in seinem Innern lebt und thätig ist, betrachtet er sich und die Natur S37 als Ein Ganzes, und was als Subjektives in seinem Innern erscheint, das gilt ihm zugleich als objektiv; er weiß, daß er der Natur nicht mehr als Fremder gegenübersteht, sondern er fühlt sich verwachsen mit dem Ganzen derselben. Das Subjektive ist objektiv geworden; das Objekte von dem Geiste ganz durchdrungen. Goethe ist der Meinung, der Grundirrtum Kants bestehe darin, daß dieser "das subjektive Erkenntnisvermögen selbst als Objekt betrachtet und den Punkt, wo subjektiv und objektiv zusammentreffen, zwar scharf aber nicht ganz richtig sondert." (Weimarische Ausgabe, 2. Abteilung, Band XI S.376) Das Erkenntnisvermögen erscheint dem Menschen nur so lange als subjektiv, als er nicht beachtet, daß die Natur selbst es ist, die durch dasselbe spricht. Subjektiv und objektiv treffen zusammen, wenn die objektive Ideenwelt im Subjekte auflebt, und in dem Geiste des Menschen dasjenige lebt, was in der Natur selbst thätig ist. Wenn das der Fall ist, dann hört aller Gegensatz von subjektiv und objektiv auf. Dieser Gegensatz hat nur eine Bedeutung, solange der Mensch ihn künstlich aufrecht erhält, solange er die Ideen als seine Gedanken betrachtet, durch die das Wesen der Natur abgebildet wird, in denen es nicht aber selbst wirksam ist. Kant und die Kantianer hatten keine Ahnung davon, daß in den Ideen der Vernunft das Wesen, das Ansich der Dinge unmittelbar gegenwärtig ist. Für sie ist alles Ideelle ein bloß Subjektives. deshalb kamen sie zu der Meinung, das Ideelle könne nur dann notwendig gültig sein, wenn auch dasjenige, auf das es sich bezieht, die Erfahrungswelt, nur subjektiv ist. Mit Goethes Anschauungen steht die Kantsche Denkweise S38 in einem scharfen Gegensatz. Es giebt zwar einzelne Äußerungen Goethes, in denen er von Kants Ansichten in einer anerkennenden Art spricht. Er erzählt, daß er manchem Gespräch über diese Ansichten beigewohnt habe. "Mit einiger Aufmerksamkeit konnte ich bemerken, daß die alte Hauptfrage sich erneuere, wieviel unser Selbst und wieviel die Außenwelt zu unserm geistigen Dasein beitrage. Ich hatte beide niemals gesondert, und wenn ich nach meiner Weise über Gegenstände philosophierte, so that ich es mit unbewußter Naivität und glaubte wirklich, ich sähe meine Meinungen vor Augen. Sobald aber jener Streit zur Sprache kam, mochte ich mich gern auf diejenige Seite stellen, welche dem Menschen am meisten Ehre macht, und gab allen Freunden vollkommen Beifall, die mit Kant behaupteten: wenn gleich alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung angehe, so entspringe sie darum doch nicht eben alle aus der Erfahrung." Die Idee stammt auch, nach Goethes Ansicht, nicht aus dem Teile der Erfahrung, welcher der bloßen Wahrnehmung durch die Sinne de Menschen sich darbietet. Die Vernunft, die Phantasie müssen sich bethätigen, müssen in das Innere der Wesen dringen, um sich der ideellen Elemente des Daseins zu bemächtigen. Insofern hat der Geist des Menschen Anteil an dem Zustandekommen der Erkenntnis. Goethe meint, es mache dem Menschen Ehre, daß in seinem Geiste die höhere Wirklichkeit, die den Sinnen nicht zugänglich ist, zur Erscheinung komme; Kant dagegen spricht der Erfahrungswelt den Charakter der höheren Wirklichkeit ab, weil sie Bestandteile enthält, die aus dem Geiste stammen. Nur wenn er die S39 Kantschen Sätze erst im Sinne seiner Weltanschauung umdeutete, konnte Goethe sich zustimmend zu ihnen verhalten. Die Grundlagen der Kantschen Denkweise widersprechen Goethes Wesen aufs schärfste. Wenn dieser den Widerspruch nicht scharf genug betonte, so liegt das wohl nur darin, daß er sich auf diese Grundlagen nicht einließ, weil sie ihm zu fremd waren. "Der Eingang (der Kritik der reinen Vernunft) war es, der mir gefiel, ins Labyrinth selbst konnte ich mich nicht wagen: bald hinderte mich die Dichtungsgabe, bald der Menschenverstand, und ich fühlte mich nirgends gebessert." Über seine Gespräche mit den Kantianern mußte sich Goethe eingestehen: "Sie hörten mich wohl, konnten mir aber nichts erwidern, noch irgend förderlich sein. Mehr als einmal begegnete es mir, daß einer oder der andere mit lächelnder Bewunderung zugestand: es sei freilich ein Analogon Kantscher Vorstellungsart, aber ein seltsames." Es war, wie ich gezeigt, auch kein Analogon, sondern das entschiedene Gegenteil der Kantschen Vorstellungsart.
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Es ist interessant zu sehen, wie Schiller sich über den Gegensatz der Goetheschen Denkweise und seiner eigenen aufzukären sucht. Er empfindet das Ursprüngliche und Freie der Gooetheschen Weltanschauung. Aber er kann die platonischen Gedankenelemente aus seinem eigenen Geiste nicht entfernen. Er kann sich nicht zu der Einsicht erheben, daß Idee und Wahrnehmung in der Wirklichkeit nicht getrennt vorhanden sind, sondern nur künstlich von S40 dem durch Plato verführten Verstand getrennt gedacht werden. ...
wird fortgesetzt